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Politik

Migranten fordern starken Staat

26. März 2018

Vom Rechtsstaat verlassen? Angesichts der Anschläge auf Moscheen und zunehmender Hasskriminalität fühlen sich viele Muslime und Juden hierzulande nicht mehr sicher. Sie schlagen Alarm und fordern mehr Schutz vom Staat.

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Deutschland Brandanschlag auf Berliner Moschee
Bild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

"Ich mache mir große Sorgen", sagt Raed Saleh, Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. "Ich erkenne mit Befremdung, wie Islamophobie geschürt wird, und zwar in einem Ausmaß, wie man es sich vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können."

Der SPD-Politiker Saleh bekennt sich als Muslim zu seinem Glauben. Und er gilt als Vorbild für den religiösen Dialog. Gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Berlin will er an der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln die Synagoge wieder aufbauen lassen, die Nazis in der Pogromnacht vor 80 Jahren zerstörten.

Deutschland Raed Saleh bei Zuckerfestgebet in Berlin Spandau
Der Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh (links) beim Zuckerfestgebet in einer Berliner Moschee Bild: M. Al-Thawr

Die jüngsten Anschläge auf Moscheen und die islamkritischen Äußerungen von Innenminister Horst Seehofer zeigen, wie mühsam dieser Dialog ist. "Die Anschläge auf Moscheen sind nicht hinnehmbar, egal, von welcher Seite sie kommen. Ein Anschlag auf eine Moschee, ein Synagoge oder eine Kirche ist immer auch ein Angriff auf die gesamte Gesellschaft", stellt Saleh im DW-Gespräch klar.

Hasskriminalität nimmt zu

Die Statistik belegt den Trend der religiösen und politischen Radikalisierung in Deutschland. Während die allgemeine Kriminalität zurückgeht und die Zahl der Straftaten im vergangenen Jahr in vielen Bundesländern auf einen erfreulichen historischen Tiefstandgesunken ist, nehmen politisch motivierte Straftaten zu.

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums stiegen die unter dem Begriff "Hasskriminalität" erfassten Straftaten zwischen 2010 und 2016 von 3.770 auf 10.751 Fälle an. Besonders stark ist die Zunahme bei Straftaten, bei denen politische Konflikte aus dem Ausland, zum Beispiel der Kurdenkonflikt in der Türkei, oder religiöse Motive eine Rolle spielen. Dies zeigt sich bei Bedrohungen von Islamisten gegenüber liberalen Muslimen.

Infografik Religiös motivierte Straftaten 2017 DEU
Seit 2017 werden unter der Rubrik "Politisch motivierte Kriminalität" erstmals "islamfeindliche" Straftaten erfasst

Besonders jüdische und muslimische Gemeinden sind durch die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung gefährdet. Zwischen 2010 und 2016 nahm die Anzahl der Straftaten, die auf aus dem Ausland importierten Konflikte beruht, von 120 auf 404 Fälle zu. Bei religiös motiviert Straftaten schoss die Zahl im selben Zeitraum von 248 auf 1516 Fälle empor. Im vergangenen Jahr setzte sich der negative Trend fort. 

Polizeischutz für Gotteshäuser

Muss also der Rechtsstaat die Religionsfreiheit stärker schützen? Die Antwortet lautet "jein". "Man kann nicht vor jede Moschee oder jeden türkischen Kulturverein einen Polizisten stellen", sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. Bei rund 2200 Moscheen in Deutschland sei dies eher schwierig.

Drohung gegen liberale Moschee in Berlin

Die meisten jüdischen Einrichtungen - Synagogen, Schulen, Kindergärten - hierzulande stehen bereits unter Polizeischutz. So existenziell wichtig dieser staatliche Schutz auch ist - er löst nicht das grundsätzliche Sicherheitsproblem, das sich aus Antisemitismus und Isamfeindlichkeit nährt, so die Erfahrung der Betroffenen.

"Die Islamverbände haben sehr deutlich formuliert, dass sie sich wünschen würden, mehr gehört zu werden, gerade angesichts dieser Brandanschläge", sagt Robert Lüdecke von der Amadeu Antonio Stiftung. Kaum einer habe sich an sie gewendet und gefragt, ob sie sich noch sicher fühlten.

Mangelnde Empathie

Auch Yunus Ulusoy bekommt immer wieder Klagen zu hören, dass sich viele Migranten von den Sicherheitsbehörden nicht ernst genommen fühlen. "Was die Community stört, ist die Teilnahmslosigkeit der Öffentlichkeit", sagt er. "Wenn solche Anschläge auf Moscheen bei anderen Gruppen passieren würden, hätte man in Deutschland eine ganz andere Diskussion. Das ist der Vorwurf, den ich aus der türkischen Community höre."

NSU-Prozess München
Erhielt Morddrohungen: Grünen-Politiker Memet KilicBild: DW/M. Fürstenau

Memet Kilic, Vorstandsmitglied im Bundesintegrationsrat, hat genau diese Erfahrung gemacht. Vor einigen Jahren erhielten der Grünen-Politiker aus Heidelberg und sein Sohn Todesdrohungen. Kilic erinnert sich: "Mir wurde von den Sicherheitsbehörden geraten, eine private Klage wegen Beleidigung einzureichen. In diesem Moment fühlt man sich vom Rechtsstaat verlassen."

Mehr Richter und Polizisten

Angesichts der Anschläge auf Moscheen warnt Kilic davor, die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der türkischen Community oder anderer aus dem Ausland importierter Konflikte zu unterschätzen.

Deutschland Tausende Kurden demonstrieren in Hannover gegen die Türkei
Konfliktherd Türkei: Über 11.000 Kurden demonstrierten am 17. März in Hannover gegen die Politik von Präsident Erdogan Bild: DW/C. Winter

"Justiz und Sicherheitsbehörden dürfen diese Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen und als ausländische Angelegenheiten abtun", sagt er. "Ansonsten werden wir von solchen Entwicklungen überrascht und kriegen sie irgendwann nicht mehr unter Kontrolle." 

Bei der Politik scheint die Warnung angekommen. Laut Koalitionsvertrag der neuen Regierung sollen bei den Gerichten der Länder und des Bundes 2000 neue Richterstellen geschaffen werden. Außerdem sollen die Sicherheitsbehörden technisch und finanziell besser ausgestattet sowie die Zahl der Polizeibeamten um 15.000 erhöht werden.

Migranten und ihre Communitys geben sich damit nicht zufrieden. Sie wollen beim Thema innere Sicherheit künftig stärken mitreden und fordern einen starken Staat. "Der Rechtsstaat muss ein Exempel statuieren und hart gegen Gesetzesuntreue vorgehen", fordert Grünen-Politiker Memet Kilic. "Die liberalen Vereinigungen müssen auch mal belohnt werden."