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Politik

Türkei: angebliche Menschenrechtsverletzungen

22. Februar 2017

Inmitten einer andauernden Militäroperation inklusive Ausgangssperre und Kommunikationsausfall soll es im kurdisch geprägten Südosten der Türkei zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sein. Augusto Fonseca* berichtet.

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Türkei  Diyarbakir
Auch die kurdisch geprägte Stadt Diyarbakir war schon Schauplatz einer Militäroperation gegen mutmaßliche PKK-KämpferBild: Reuters/S.Kayar

Die Helikopter kamen am Abend des 11. Februar. Um 19.30 Uhr umzingelten Soldaten das Dorf Korukoy in der südöstlichen Türkei, um in einer Überraschungsoperation Kämpfer gefangen zu nehmen, die mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in Verbindung stehen sollten.

Aysel S**, eine 17-jährige Studentin aus Korukoy, beobachtetete durch ihr Fenster, wie Soldaten mit Spürhunden in ihrem Garten stehenblieben. Dann stürmten sie ihr Haus und verhörten ihren ältesten Bruder direkt an Ort und Stelle.

"Sie schlugen seinen Kopf gegen die Wand und schrien 'Sie sind hier! Du versteckst sie! Wo versteckst du sie?'", sagt Aysel. "Sie haben nicht aufgehört, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. Meine Mutter hat versucht, sie aufzuhalten."

Berichten zufolge gilt seither rund um die Uhr eine Ausgangssperre für die Bewohner von Korukoy. Sie dürfen das Dorf nicht verlassen, die Stromversorgung und Telefondienste sind gekappt worden. Der Verkehr ist in einem Radius von fünf Kilometern um Korukoy herum gesperrt, politische Delegationen und Menschenrechtsbeobachter bekommen keinen Zugang zu dem Ort.

"Für mich war es wie die Apokalypse", sagt Aysel in einem Telefoninterview. "Ich dachte, meine Familie und ich werden umgebracht." Aysel kann nur darüber reden, weil sie zu den wenigen gehört, die das Dorf verlassen durften. Ihre Mutter musste sich in Folge des Verhörs wegen eines Herznotfalls behandeln lassen und die Familie durfte in einer nahegelegenen Klinik medizinische Hilfe aufsuchen.

Gerüchten zufolge sollen die restlichen Bewohner weggebracht werden, während die Militäroperationen und der Kommunikationsausfall abseits der Medienaufmerksamkeit andauern. Unterdessen sind im Lauf der vergangenen Woche Bilder verstümmelter Leichen auf den Social-Media-Profilen der türkischen Spezialeinheiten aufgetaucht. Die Vorwürfe über fortlaufende Menschenrechtsverletzungen werden immer lauter - und auch die Forderung, unabhängige Beobachter nach Korukoy zu lassen.

Laut einem Bericht sind mindestens drei Leichen in die örtliche Leichenhalle eingeliefert worden. Sollten sich die Vorwürfe als wahr herausstellen, ist wohl klar: Die Bewohner von Korukoy sind Zeugen der fortschreitenden Gewalt, die dem Südosten der Türkei seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen 2015 keine Ruhe lässt.

Zugang verweigert

Türkei Feleknas Uca HDP Politikerin
Feleknas Uca (Mitte) bei einer Demonstration gegen die Festnahme der stellvertretenden Bürgermeister von DiyarbakirBild: Getty Images/AFP/I. Akengin

Feleknas Uca aus Diyarbakir sitzt für die sozialistische, prokurdische Demokratische Volkspartei (HDP) im türkischen Parlament. Sie gehörte einer der Delegationen an, denen am Wochenende der Zugang zu dem Dorf verwehrt wurde. Laut Uca leben 65 bis 67 Familien in Korukoy. Da Familien auf dem Land meist groß sind, geht sie davon aus, dass zwischen 200 und 500 Menschen von der Ausgangssperre betroffen sind.

Die HDP fordert von der kommunalen Regierung und vom türkischen Parlament eine Auskunft zur Ausgangssperre und hat auf ihrer Webseite ein Statement veröffentlicht, bisher aber keine Antwort erhalten.

"Die Regierung sagt, sie täten es für die Sicherheit der Menschen, aber wenn es hier wirklich um Sicherheit geht und es keine Toten und keine Folter gibt, warum dürfen gewählte Volksvertreter und Menschenrechtsorganisationen dann nicht ins Dorf?", sagt Uca in einem Telefoninterview. "Wenn niemand rein darf, was verstecken sie?"

Am 18. Februar veröffentlichte das Büro des Gouverneurs von Mardin, des Bezirks, zu dem Korukoy gehört, ein Statement. Darin heißt es, die Operation werde durchgeführt, um "um Terroristen zu neutralisieren, ihre Unterschlüpfe und Lager zu finden und zu zerstören" und "um Kollaborateuren, die ihnen helfen, zu verhaften".

In einer weiteren Stellungnahme der Regierung ist zu lesen, dass zwei Seperatisten "tot gefangen genommen" und zwei Untergrundverstecke entdeckt wurden, in denen sich eine Kalaschnikow, Munition, selbstgebaute Raketenteile, elektrische Sicherungen, Radios und Batterien befanden.

Kollateralschaden

Türkei Bürgermeister der türkischen Kurdenmetrophole Diyarbakir in Untersuchungshaft
Die Zivilisten im kurdisch geprägten Südosten des Landes leiden unter den MilitäroperationenBild: Reuters/S. Kayar

Laut Andrew Gardner von Amnesty International in der Türkei müssen die Informationen über die Operation in Korukoy noch verifiziert werden, aber die Ausgangssperre ähnele denen, die bereits 2015 und 2016 in kurdisch geprägten Städten wie Cizre, Yuksekova, Diyarbakir und Nusaybin verhängt wurden. Auch bei diesen Operationen hätten die türkischen Behörden darauf abgezielt, kurdische Kämpfer aus bewohnten Gebieten auszuschalten. Dabei seien Zivilisten im Kreuzfeuer gelandet.

"In früheren Fällen war es sehr schwer, sich Klarheit über die Faktenlage zu verschaffen", sagt Gardner. "In den Fällen, die wir uns angeschaut haben, wurden auch kleine Kinder und Senioren getötet und verletzt. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie an Kämpfen beteiligt waren."

Vor dem Hintergrund von Berichten über Ausgangssperren in Cizre und Sur, einem Stadtteil in Diyarbakir, könne die Abwesenheit von neutralen Beobachtern dazu führen, "dass zukünftige Menschenrechtsverletzungen nicht aufgedeckt, geschweige denn aktuelle verhindert werden können", erklärt Gardner.

"Damals haben wir viele Beweise dafür gesehen, dass die Gewalt unverhältnismäßig und rücksichtslos war und zu Tod und Verletzungen geführt hat", sagt er. "Zu dem Zeitpunkt wurde Beobachtern der Zugang verweigert, genau wie heute in Korukoy, und das ist hinsichtlich der Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen unglaublich problematisch".

Der andauernde Ausnahmezustand in der Türkei begünstige unter Soldaten eine Kultur, in der davon ausgegangen werde, dass Misshandlungen nicht gemeldet würden, so Gardner. Zwar seien gepanzerte Fahrzeuge in der Türkei mit Videokameras ausgestattet, aber bei Untersuchungen zu vergangenen Ausgangssperren sei Ermittlern das Material nicht zu Verfügung gestellt worden. Laut Gardner wartet man immer noch darauf, dass die Aufnahmen freigegeben werden.

*Aufgrund der sensiblen Thematik wurde dieser Beitrag unter einem Pseudonym verfasst.

**Der wirkliche Name von Aysel S. wird zum Schutz ihrer Identität nicht genannt.