1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Mariupol - Stadt der russischen Schande

Roman Goncharenko (DW)
Roman Goncharenko
21. Mai 2022

Die Hafenstadt im Donbass ist zum Symbol des Vernichtungskrieges geworden, den Russland gegen die Ukraine führt. Doch mit der Besetzung ist die ukrainische Geschichte von Mariupol nicht zu Ende, meint Roman Goncharenko.

https://p.dw.com/p/4AJZ2
Fünf Männer tragen eine hochschwangere Frau über den völlig zerstörten und mit Trümmern übersäten Innenhof der Geburtsklinik von Mariupol
Evakuierung einer Gebärenden in Mariupol, als Anfang März die Geburtsklinik der Stadt beschossen wirdBild: Evgeniy Maloletka/AP/picture alliance

Das schwärzeste Kapitel in der Geschichte von Mariupol geht jetzt zu Ende. Ukrainische Kämpfer verlassen das Asow-Stahlwerk nach fast dreimonatigem Widerstand. Das war ein Rekord in diesem Krieg Russlands gegen die Ukraine, der schon mit der Krim-Annexion begonnen hat. Noch länger wurde 2014 und 2015 nur der Flughafen von Donezk verteidigt. Allerdings war die Lage in Mariupol schwerer, denn die Ukraine konnte den Belagerten militärisch nicht helfen.

Manche ukrainische Kämpfer verlassen die Bunkeranlagen unter dem Stahlwerk selbst, einige werden auf Tragen hinausgebracht, andere bleiben, um als letzte zu gehen - oder zu sterben. Die Hoffnung derjenigen, die Gefangenschaft gewählt haben, ist, gegen die von der ukrainischen Armee gefangenen russischen Soldaten ausgetauscht zu werden. Ob es gelingt ist schwer vorauszusagen. Russland beeilt sich offenbar nicht und benutzt die ukrainischen Kriegsgefangenen für erniedrigende Propaganda.

Mariupol - den Namen der Stadt am Ufer des Asowschen Meeres kennt heute die ganze Welt. Man wird ihn in Büchern über die Geschichte des Krieges Russlands gegen die Ukraine, der ein brutaler Vernichtungskrieg ist, ganz vorne erwähnen. Mariupol ist die erste ukrainische Großstadt, die von der russischen Armee systematisch und ohne Rücksicht auf zivile Opfer völlig zerstört wurde. Sie war schnell eingekesselt, gab aber nicht auf, sondern widersetzte sich und wurde so zu einem Vorbild für den Selbstbehauptungswillen der Ukraine. Mariupol war die einzige große Stadt in der bisher besetzten Südukraine, die starken Widerstand geleistet hat. Darüber wird Kiew noch nachdenken müssen.

Die genaue Zahl der Todesopfer in der Stadt, in der vor dem Krieg etwa eine halbe Million Menschen lebten, ist noch nicht bekannt, aber es wird befürchtet, dass sie in die Zehntausende gehen könnte. Nach wochenlangem ununterbrochenem Beschuss ist fast kein einziges Wohngebäude mehr intakt. Das ist zweifellos ein Kriegsverbrechen.

Warum Russland Mariupol so brutal attackierte

Vom ersten Kriegstag an war Mariupol neben Charkiw und Kiew eine der drei Städte, um die am heftigsten gekämpft wurde. Warum gerade sie? In erster Linie wegen ihrer strategischen Bedeutung. Mariupol ist nach Donezk das zweitwichtigste Industriezentrum im Donbass und ein wichtiger Handelshafen. Im Frühjahr 2014 erlitt sie das Schicksal von Donezk und Luhansk und war einige Wochen von prorussischen Separatisten besetzt, wurde aber von der ukrainischen Armee schnell wieder befreit. Die Frontlinie verlief seitdem einige Kilometer von der Stadt entfernt. Die beiden Industriegiganten vor Ort, das Asow-Stahlwerk Asovstal und das Iljitsch-Metallurgiekombinat Mariupol, konnten ihre Produktion fortsetzen.

Goncharenko Roman Kommentarbild App PROVISORISCH
DW-Redakteur Roman Goncharenko

Acht Jahre lang lebten die Einwohner von Mariupol auf einem Pulverfass. Aber mit Ausnahme eines Angriffs im Januar 2015, bei dem mehr als 30 Menschen getötet wurden, blieb die Stadt verschont und hatte weder weitere Opfer noch Zerstörungen zu beklagen. In dieser Zeit wurde Mariupol zu einem Zentrum des zwar russischsprachigen, aber ukrainisch gesinnten Donbass. Die blau-gelbe Flaggen waren denjenigen ein Dorn im Auge, die Mariupol als Teil der Regionen sehen wollten, die mit Hilfe von Separatisten in Wirklichkeit von Russland besetzt sind. Das ist auch der Grund für die besondere Grausamkeit der russischen Armee. Außerdem spielt die Lage von Mariupol, das auf der Landbrücke von Russland zur annektierten Krim liegt, eine Rolle. Die Schaffung einer solchen Landverbindung ist eines der offensichtlichen Ziele Russlands in diesem Krieg.

Ein weiterer und sehr wichtiger Grund ist schließlich auch die Tatsache, dass sich das Hauptquartier des von radikalen Nationalisten gegründeten Asow-Regiments in Mariupol befand. Gerade sie waren es, die 2014 eine entscheidende Rolle bei der Befreiung der Stadt gespielt hatten. Die bloße Existenz des Asow-Regiments, einer kleinen, aber bekannten und gut bewaffneten Einheit der ukrainischen Nationalgarde, ist seit Jahren ein zentrales Thema der russischen Propaganda. Seit Russland die "Entnazifizierung" zum offiziellen Kriegsziel erklärt hat, versucht der Kreml alle diejenigen zu vernichten, die er als "Nazis" bezeichnet.

Prozess gegen russische Kriegsverbrecher in Mariupol

Der Preis, den Mariupol hierfür zahlen musste, ist ungeheuerlich. Im weltgeschichtlichen Gedächtnis zählt das ukrainische Mariupol nun zu den Städten, die in einem Krieg nahezu vollständig zerstört wurden. Die Schlacht um Mariupol wird in Erinnerung bleiben - wegen des schockierenden Beschusses der Geburtsklinik, aus der blutüberströmte Mütter hinausgetragen wurden, und auch wegen der Bombardierung des Theaters, in dessen Keller Zivilisten Schutz gesucht hatten, aber dort umkamen. Diese Bilder wird man nicht vergessen. Mariupol ist zu einer Stadt der russischen Schande geworden.

Aber mit der vollständigen Besetzung durch russische Truppen endet die ukrainische Geschichte der Stadt nicht. So wie Asow-Stahl wieder produzieren wird, wird auch die ukrainische Flagge dort wehen. Das dunkelste Kapitel der Stadtgeschichte wird erst dann endgültig abgeschlossen sein, wenn die Kriegsverbrecher dieser brutalen Eroberung vor Gericht gestellt werden. Schon jetzt werden Stimmen laut, die ein internationales Tribunal nicht in Den Haag, sondern vor Ort in Mariupol fordern. Zeugen der Verbrechen des russischen Militärs gibt es in der Ukraine mehr als genug.