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Politik

Wie ich die Vergangenheit bewältigte

Carmen-Francesca Banciu
27. April 2018

Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist schmerzhaft. Die Deutschen, meint die deutsch-rumänische Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu, haben sich ihrer Vergangenheit gestellt, ihre Schuld anerkannt und gesühnt.

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Carmen-Francesca Banciu, Autorin
Bild: Marijuana Gheorghiu

In diesem Frühling, als mein Roman "Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!" veröffentlicht wurde, und ich damit das langwierige Projekt einer Trilogie abgeschlossen hatte, ist mir klar geworden, dass dies auf künstlerische Weise, meine Art Vergangenheitsbewältigung darstellte. Vergangenheitsbewältigung ist etwas, das ich erst aus Deutschland kenne. Kein anderes Land ist mir bekannt, welches sich auf eine solch kritische und selbstkritische Art, so scharfgenau, so schonungslos im Spiegel angeschaut hat und sich schmerzhaft mit seiner Vergangenheit auseinander gesetzt hat.

Die deutsche Vergangenheit und ihre Bewältigung sind Themen, die mich schon gleich  am Anfang meiner Zeit in Berlin beschäftigt haben. Damals war die Euphorie der Wende überwältigend. Die Wiedervereinigung hatte gerade stattgefunden. Diktaturen im Osten waren gefallen. Der Wind der Freiheit wehte in Europa und für einen Augenblick schien es, als hätte die Geschichte neu angefangen. Angefangen mit einer neuen Bundesrepublik. Berlin schien mir der Ort, in dem von Neuem Geschichte geschrieben werden konnte. In diesem Zusammenhang blickte ich auf die Vergangenheit des Landes, in dem ich angekommen war. Besonders auf die nicht so weit zurückliegende, und wollte sie verstehen.

Die Deutschen und die Frage der Sühne

In der Schule in Rumänien hatten wir Allgemeines über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands gelernt, aber der Focus lag nicht auf der Nazivergangenheit, sondern auf dem, aus der Sicht der Parteiideologie, feindlichem, politischen System des Westens. Wir lernten über den Klassenfeind BRD und als Gegenpol, über den Bruderstaat DDR. Der Holocaust wurde im Unterricht nicht ausgespart, aber eher oberflächlich behandelt.

In Berlin Anfang der Neunziger wurde die Auseinandersetzung mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung brennend aktuell. Im Zusammenhang mit dem Angriff Iraks auf Israel während des Golfkriegs mit Scud-Raketen kochte in der Gesellschaft das Thema mit großer Emotionalität hoch. Auf der Straße, in der Presse, in den Kultureinrichtungen wurden hitzige Debatten geführt. Vor allem über die Notwendigkeit und Richtigkeit, Schuld auf sich zu nehmen und die Bereitschaft zur Buße, über die Zurückhaltung Deutschlands in Bezug auf Kriegsbeteiligung und die Haltung der pazifistischen Bewegung gegenüber dem Angriff auf Israel. Über die Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel.

Bei einem Treffen im Literaturhaus mit israelischen Autoren im Beisein von Günther Grass eskalierte es nicht nur zwischen den Podiumsbeteiligten. Unter anderem der Vorwurf des Schriftstellers Yoram Kaniuks, Deutschland würde nicht richtig bereit zur Sühne sein und würde zu schnell in die Normalität zurückkehren wollen, brachte das junge Publikum dazu, sich laut zu wehren, Verantwortung für die Taten ihrer Großeltern zu übernehmen. Daraus entwickelten sich Diskussionen nicht nur an dem Abend, sondern auch sonst in der Presse und in der Gesellschaft über die Verantwortung des Landes allgemein für Gerechtigkeit und Weltfrieden.

Der Schuldige in Nachbars Garten

Auf Schritt und Tritt wurde mir bewusst, wie mächtig und gründlich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Deutschland war, und wie vorbildlich sie bis zum heutigen Tag vorangetrieben wird. Wie stark sie die Gesellschaft beschäftigt, und wie wichtig dieser Einsatz ist. Ob in der Öffentlichkeit, in Schulen, im beruflichen Leben, in der Politik, in der Presse oder im Privaten. Als Folge dieser Auseinandersetzung und kritischen Selbstbetrachtung ist die deutsche Gesellschaft  eine der offensten und modernesten geworden. Und es ist nicht von ungefähr, dass junge Menschen aus aller Welt sich besonders von Berlin angezogen fühlen, und den Geist der Freiheit und Offenheit spüren und in sich aufnehmen.

Bildergalerie Mauerfall
Symbol der deutschen Teilung: Checkpoint Charlie am Tag nachdem die Mauer fielBild: picture-alliance/dpa

Über 70 Jahre nach dem Krieg ist diese Art von Vergangenheitsbewältigung noch längst nicht abgeschlossen. Dagegen hat die Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf die Zeit Deutschlands nach dem Krieg, die Auseinandersetzung mit den Gründen der Teilung des Landes und besonders mit ihren Folgen eigentlich noch immer nicht angefangen. Bis jetzt hat nur eine Distanzierung von der SED-Zeit stattgefunden. Dies ist aber eine Art, den Schuldigen in  Nachbars Garten abzuschieben.

Deutschland ist ein wieder vereintes Land, danach haben sich die Deutschen immer gesehnt. Somit  ist es unumgänglich, die Geschichte der DDR und die der Bundesrepublik als eine gemeinsame Geschichte zu betrachten. Denn die unterschiedlichen Entwicklungen in der Geschichte des Ostens und des Westen sind geboren aus den Folgen einer gemeinsamen Vergangenheit.

Kinder der gleichen Mutter

Ohne die Zeit vor dem Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus hätte es keine Teilung gegeben. Und: Auch wenn sich die Zwillinge unterschiedlich entwickelt haben, sind sie doch trotzdem Kinder der gleichen Mutter.

Deswegen kann weder der Westen, noch der ehemalige Osten sich überlegen fühlen. Wichtig ist das gleichberechtigte und ernsthafte Bemühen beider Seiten um Aufarbeitung. Es ist an der Zeit, die Vergangenheit in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit und Komplexität mit Objektivität anzuschauen und aus ihr gemeinsam zu lernen.

Nicht von Sieger und Besiegten, nicht von Gerechten und Ungerechten soll die Rede sein, sondern von einem wahrhaftigen Bemühen, das Knäuel der Kausalitäten und Abhängigkeiten zu entwirren, um so die Heilung der einzelnen Teile zu ermöglichen und zu einem gesunden Organismus zusammen zu wachsen. Erst wenn dies geschieht, werden die Brüder sich nicht mehr als Stiefbrüder betrachten, sondern sich gegenseitig und vollkommen annehmen können und auch politische Entscheidungen gemeinsam tragen können.

Carmen-Francesca Banciu ist in Rumänien geboren. Seit November 1990 lebt sie als freie Autorin in Berlin und leitet Seminare für kreatives Schreiben. Seit 1996 schreibt sie auch in deutscher Sprache. Zuletzt erschienen von ihr die Bücher "Leichter Wind im Paradies" und "Berlin is my Paris" auf Deutsch und Englisch. Im März wurde ihr neuer Roman "Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!" veröffentlicht.