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Politik

Mein Europa: Die Veränderungen Berlins

Bora Ćosić
22. Oktober 2016

Vor Krieg und Nationalismus in Serbien fliehend kam Bora Ćosić Anfang der Neunzigerjahre in sein imaginäres Berlin der großen Künstler und Philosophen. Seitdem ist die Hauptstadt für ihn immer realer geworden.

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Bora Cosic serbischer Schrfitsteller
Bild: picture-alliance/U. Zucchi

Als ich vor zwanzig Jahren nach Berlin kam, schien es mir, als hätte ich einen zwei Nummern zu großen Mantel angezogen, so viel Raum blieb zwischen mir und dieser Stadt. In ihr war dank meines Vorwissens mehr Berlin als es Berlin gibt. So war sein Volumen mit dessen gewaltiger Ornamentik gefüllt, die Walter Benjamin, Brecht, Walter Ruttmann geschaffen hatten, sogar mein großer Landsmann, der Kunsthistoriker Oto Bihalji, aus der Zeit der heroischen Avantgarde der Zwanzigerjahre, hat etwas zu dieser Geschichte beigetragen, das geweitete Herz dieser Stadt füllte Nabokov aus und die übrigen Russen ein Jahrhundert früher.

Dort, wo Gombrowicz auf einer Bank des Tiergartens sitzend über den Tod nachdachte und Pasternak diese fröhliche Notiz niederschrieb: Berlin kam mir wie eine Stadt von Buben vor, denen man am Tage zuvor Seitengewehre und Helme, Stöcke und Pfeifen, richtige Fahrräder und Anzüge geschenkt hatte, residierte Ivo Andrić als Botschafter des fernen jugoslawischen Königreichs, und eine Stelle als Attaché hatte hier auch der große Dichter serbischer Sprache Miloš Crnjanski. Nur dass ihm sein Chef empfohlen hatte, als Dichter nicht zu arbeiten, sondern nur nach Herzenslust in Berlin herumzuspazieren.

Berlin Zoologischer Garten
Spaziergänge im Tiergarten - auch das ist BerlintumBild: picture-alliance/maxppp

So hatte auch ich dank meines Stipendiums ein offenes Feld für Spaziergänge, und doch schrieb ich, da ich viel Schlimmes erfahren hatte, meine Ängste in mein Tagebuch, mein belletristisches. Und fragte mich, wo ich in den nächsten Monaten wohl wohnen würde, weil ich mir vorstellte, dass zuerst ein Chodorkowski untergebracht werden müsse, und später ich an die Reihe käme. Bald zeigte sich, dass ich dieser Chodorkowski war und es für mich einen Platz in dieser Stadt gab, unter der Bedingung, dass ich lernte, mit dem Lift der Marke Stigler in der Mommsenstraße umzugehen, obwohl ich dem Hausmeister erfolglos versicherte, dass ähnliche Vorrichtungen auch dort existierten, wo ich herkam.

Berlin, die Stadt meiner Zukunft

Später beruhigte sich alles ziemlich und kam ins Gleichgewicht. Bei meinen Gängen durch den Ostteil der Stadt stellte ich fest, dass Berlin von der Baufälligkeit der Häuser in der Oranienstraße einigen Teilen Belgrads ähnelte; Berlin ließ in seinem Berlintum nach und wurde immer mehr die angenehme Stadt meiner Zukunft. Als hätte es einige Belgrader Eigenheiten übernommen und wäre zu meiner ehemaligen Stadt in Vergrößerung, in Reserve geworden.

Ich weiß nicht genau, wann eine Stadt die andere wird, die der vorherigen ähnelt, aber nicht so ganz. Wie auch meine Straße, erobert von mehrstöckigen Gebäuden, der von vorher nur ähnelt, obwohl ich nicht genau feststellen kann, woher dieser Unterschied kommt. Ich scheine mir dieses Berlin mit der Zeit aufgebaut zu haben, durch das Praktizieren meines Berlintums. Ich begriff, dass das Berlintum eine Art Beruf von mir geworden war, ungeachtet der übrigen Tätigkeiten, die ich ausübte, Berlintum als Handwerk, Gewerbe. 

Potsdamer Platz Berlin Ritz Carlton Deutschland Berlin
Es war leicht, die Fassaden am Potsdamer Platz neu zu errichten...Bild: Reuters

Dennoch, die Sinnestäuschungen und Spiele meiner Seele, die für psychologische, dichterische und philosophische Erforschungen geeignet wären, sind nicht alles. Ich musste meine literarischen Phantasmen beschwichtigen, indem ich mich den Menschen und der Gesellschaft um mich herum zuwandte. Auf einmal stellte ich fest, dass diese nicht mehr die gleiche war. Es war leichter, die heruntergekommenen Fassaden zu renovieren, den Potsdamer Platz zu errichten und aus der Friedrichstraße eine glamouröse Via Condotti zu machen, als jene Wende zu vollbringen, die sich im Bewusstsein der Menschen abgespielt hatte. Ich war ein paar Jahre nach dem Mauerfall gekommen, um hier zu leben, noch immer spürte ich die Begeisterung über dieses Ereignis, das ich auch weiterhin für das wichtigste in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts halte.

Leben mit den Unterschieden

Allmählich wurde klar, dass alles nicht mit den Küssen jener Teenager für die erstaunten DDR-Grenzer endete, die gleichgültig den Schlagbaum am Brandenburger Tor hoben. Diese Gleichgültigkeit breitete sich über unser ganzes Berliner Leben aus, was nun, wenn das Fatum der Mauer und sein bedrohliches Zeichen nicht mehr existiert?! Berlin bekam ein Problem, als es sein wichtigstes Problem löste, das darin besteht: wie leben. Es zeigte sich, dass jene Einmütigkeit an dem Herbsttag 1989 nach und nach zerfiel und sich dabei jene Fragen vervielfachten, die nicht nur Deutschland, nicht nur Berlin, sondern auch Europa, die Welt betreffen.

Berlin Oranienstraße Kreuzberg Café
Berlins Oranienstraße weckt bei manchem die Erinnerung an Teile BelgradsBild: picture-alliance/dpa/Arco Images

Es stellte sich heraus, dass das friedliche Ekrasit der Feuerwerkskörper eine maligne Alternative hat, wieder begannen Bomben zu explodieren wie in der Zeit der verrückten und irrationalen Roten Armee Fraktion. Und wieder, wie mehrere Male in der Geschichte, sind die Verursacher des Chaos nicht unbedingt damit im Reinen, was sie mit ihrer Aggressivität vertreten, viele junge Krawallmacher wissen manchmal gar nicht, was das berüchtigte Hakenkreuz bedeutet, das sie auf unsere Wände schreiben. Wir müssen uns damit abfinden, dass es unvermeidliche Unterschiede zwischen uns gibt, und mit diesen muss man weiterleben.

Die Leute haben nie genug, weder vom Guten noch vom Bösen. Selbst unter den besten Verhältnissen entdeckt der Mensch seine persönliche Qual, in jedem ist die Schwelle sehr nah, über die man in Trübsal und Trauer schreitet. Genauso leicht ist es, in jenes andere Gemach unseres Bewusstseins, das Gemach des Bösen, zu gelangen. Das ist der dem Negativen zugewandte Teil unserer Seele, der sich, abhängig von den Umständen, leicht aktivieren lässt. So ist auch Berlin wie jeder andere Ort des menschlichen Lebens eine vervielfachte Stadt und wie alle Metropolen eine Art Summe, Enzyklopädie von vielem.

Für jede Stadt bleibt es ein Problem, wie sie weiterexistiert, wenn sie in jemandes Bewusstsein aufhört, etwas Besonderes zu sein und zu einem gewöhnlichen Aufenthaltsort wird. Einmal hat Christo den Reichstag in seine Seide gehüllt, musste ihn aber nach ein paar Tagen wieder enthüllen, damit er blieb, was er ist. Das geschah auch in meinem Bewusstsein, ich lebe weiterhin in einem enthüllten Berlin, aber niemals werde ich den Charme vergessen, als es vor zwanzig Jahren in der Verhüllung meines Unwissens existierte.

Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber

Bora Ćosić (84) ist ein serbischer Schriftsteller. Anfang der Neunzigerjahre verließ er aus Protest gegen das Milošević-Regime Belgrad und ging nach einem Aufenthalt in Rovinj (Kroatien) nach Berlin. Im Jahr 2002 wurde er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet, 2008 erhielt er zusammen mit seiner Übersetzerin Katharina Wolf-Grießhaber den Albatros Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung Bremen. Bora Ćosić lebt in Berlin und in Rovinj.