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Mein Deutschland: Pokémania

Zhang Danhong19. September 2016

Anfang Juli nahm das Virus in den USA seinen Lauf. Deutschland folgte. Inzwischen ist die halbe Welt infiziert. DW-Kolumnistin Zhang Danhong beobachtet den Hype um das Spiel Pokémon Go mit einem Augenzwinkern.

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Screenshot Pokémon Go auf einem Smartphone
Bild: Pokémon Go

Wenn die Hartgesottenen aus dem Haus gehen, packen sie Powerbanks (damit kann man Handys unabhängig vom Stromnetz aufladen) und Wasser in den Rucksack und setzen eine Kappe auf. So sind sie für einen langen Marsch auch ohne Schatten gerüstet und sehen genauso aus wie ihr Avatar im Spiel. Ihr iPhone tragen sie behutsam in der rechten Hand (bei Rechtshändern zumindest). Und los geht es auf die Pokémon-Jagd.

Das Raffinierte an diesem Spiel ist, dass es Kinder und Jugendlichen an die frische Luft lockt und den Eltern Einwände erschwert. Früher musste ich meine Tochter antreiben, damit sie mit mir im Park laufen geht. Nun kommt sie auf mich zu: "Mama, wollen wir eine Runde joggen?" Zwar bleibt sie ab und zu stehen, um die Taubsis, Raupys oder Hypnos einzufangen, aber dem Aufbau der Kondition hilft es allemal. Und selbst wenn keine fette Beute auf sie wartet, werden so manche Poké-Eier allein durch die Vorwärtsbewegung ausgebrütet.

Das verführt zum Schummeln. Einige setzen das Spiel während einer Autofahrt fort und stellen enttäuscht fest, dass die App ein zu hohes Tempo nicht anerkennt. Bei anderen war das Experiment erfolgreich, ihr Handy an den Hund zu binden und so die ganzen Kilometer geltend zu machen, die der lauffreudige Vierbeiner in der Wohnung zurücklegt. Das setzt jedoch voraus, dass man A) einen Hund besitzt und B) den ganzen Tag auf sein Handy verzichtet. Das macht die Zahl der schwarzen Schafe vernachlässigbar.

Zhang Danhong Kommentarbild App
DW-Redakteurin Zhang Danhong

Was früher Höchststrafe war, wird heute zur Freude

Dass für die echten Poké-Jäger ein Spaziergang zu den Denkmälern und bekannten Bauten in der Stadt nun zum reinsten Vergnügen wird, lässt das Herz der Eltern und Geschichtslehrer ebenfalls höher schlagen. Der Grund liegt darin, dass sich an den Sehenswürdigkeiten einer Stadt die sogenannten Pokéstops befinden, wo man kostenfrei Eier, Bälle und Tränke erhält. Natürlich tummeln sich dort auch eine Menge Pokémon, um die sich die vielen Spieler aber nicht streiten müssen. Denn die Pokémon werden vom Spielserver per Zufallsprinzip in die virtuelle Landkarte des Spiels generiert. So können alle Spieler unabhängig voneinander die Figuren sehen und auch fangen.

Deutschland Pokemon Spieler in Achen
Poké-Fänger am Aachener RathausBild: DW/Z. Danhong

Ein unsichtbares Band verbindet also die vielen jungen Menschen, die in der Innenstadt den Müßiggang für sich entdeckt haben - dabei hochkonzentriert und gedankenversunken auf ihr Handy starrend. Der Code ist die Bewegung des Daumens, der auf dem Touchscreen von unten nach oben wischt. Dabei wird ein Poké-Ball abgeworfen und im Idealfall ein neues Pokémon gefangen. Die Gleichgesinnten sind Einzelkämpfer und Teamplayer zugleich. Ab Level fünf kann sich ein Spieler für eines der drei Teams (blau, rot oder gelb) entscheiden und an Kämpfen in Arenen teilnehmen, die ebenfalls virtuell an markanten Orten installiert sind. Trifft man jemanden vom selben Team, ist die Freude groß. Wildfremde Menschen kommen ins Gespräch. Depressive sollen bereits dadurch geheilt worden sein. Manche verlieben sich. Nächstes Jahr kommen dann vielleicht Kinder mit seltsamen Namen wie Pummeluff oder Traumato auf die Welt.

Pokémon Go als Reiseführer

Neulich wollte ich an einem wunderschönen Sonntag spontan die Schatzkammer des Aachener Doms besuchen und nahm meine Pokémon-infizierte Tochter mit. Auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Dom spielte sie die Reiseführerin: "Gerade marschieren wir durch das Marschiertor… Das komische Haus auf der anderen Straßenseite heißt Cube. Moderne Architektur soll es sein… Diese Skulpturen bilden den 'Kreislauf des Geldes'." Ohne das Poké-Spiel hätte ich das alles nicht wahrgenommen! Natürlich ist meine Tochter spieltechnisch auch auf ihre Kosten gekommen.

Deutschland Zum goldenen Einhorn Restaurant in Achen
Ohne die Poké-App wäre ich nie auf dieses goldene Einhorn aufmerksam gewordenBild: DW/Z. Danhong

Durch GPS hat uns das Spiel gefunden und uns auf einer Landkarte positioniert, die auf Google Maps basiert. Eine "erweiterte Wirklichkeit" (augmented reality) nennt sich das Ganze. Das überfordert einige Spieler. Sie vergessen schon mal, dass die auf der Straße hüpfenden Wesen nur virtuell, dafür die Autos aber real sind. So musste die Polizei in Düsseldorf eine Brücke für den Autoverkehr sperren, damit keiner wegen eines Spiels sein Leben verliert.

Aus verkehrstechnischer Sicht bin ich froh, dass China einen großen weißen Fleck auf der Poké-Weltkarte bildet. Die Verhältnisse auf den Straßen sind auch ohne abgelenkte Fußgänger chaotisch genug. Die Regierung in Peking verwehrt Google beharrlich den Zugang. Ohne Google-Konto kein Pokémon Go. Mein Mitleid mit Nintendo und Google, im bevölkerungsreichsten Land der Erde kein Geld verdienen und Daten sammeln zu können, hält sich in Grenzen. Ob die Chinesen das bedauern? "Nein", sagte mir ein Freund in Peking. Dann erzählte er, dass Wissenschaftler gerade an einer anderen erweiterten Wirklichkeit arbeiten - einer App, die Befriedigung simuliert. Dann bräuchte man auch keinen Sex und keine Beziehung mehr. Ich kam ins Grübeln: Wenn ich ganz ehrlich bin, sind mir die Neugeborenen mit den seltsamen Namen dann doch lieber.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.

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