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Das Deutsch der Migranten

Günther Birkenstock16. März 2012

Migrantendeutsch wird häufig aus der Perspektive des Mangels betrachtet. Dabei sind vor allem Jugendliche kreativ im Umgang mit Sprache. Das Institut für Deutsche Sprache widmet sich dem Thema auf seiner Jahrestagung.

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Shaha A. (l-r, Syrien), Iman Azzaoui, FWZ-Praktikantin, Adul D. (Iran), Bettina Künzel, Kursleiterin des Frauenprojekts der Caritas Aachen, Ganimede S. (Kosovo) und die ehrenamtliche Helferin Hannelore Dockhorn besprechen in einer Frauengruppe im Freiwilligen-Zentrum (FWZ) in Aachen das Alltagsthema "Ernährung" (Foto vom 03.12.2008). Im Freiwilligen-Zentrum Aachen arbeiten neben den hauptberuflichen auch etliche ehrenamtliche Mitarbeiter. Sie kümmern sich unter anderem um die Probleme von Migranten. Foto: David Ebener dpa/lnw (zu dpa-KORR "Geben und Nehmen - Jeder Vierte engagiert sich im Ehrenamt" vom 28.12.2008) +++(c) dpa - Report+++
Migranten lernen AlltagsdeutschBild: picture-alliance/dpa

Migration verändert die deutsche Gesellschaft nachhaltig, sozial und kulturell. Sprache spielt dabei eine zentrale Rolle. Vor allem natürlich auf der Seite derjenigen, die Deutschland als neue Heimat gewählt haben. Sie müssen Deutsch lernen, um im Alltag zurecht zu kommen. Spracherwerb ist notwendig für die Teilhabe an der Gesellschaft, vom Brötchenkauf bis zum Kinobesuch. Außerdem gibt es ohne ausreichende Sprachkenntnisse keinen Aufstieg in der Berufswelt. Den Weg, sich diese Sprache anzueignen und die verschiedenen Formen, sie zu benutzen, hat das Institut für Deutsche Sprache, IDS, in Mannheim jetzt zum Thema seiner Jahrestagung gemacht: "Das Deutsch der Migranten". Auf der Konferenz vom 13. bis 15. März 2012 ging es aber nicht nur um die Zugezogenen aus anderen Ländern, sondern auch um die Auswirkungen des Miteinanders auf die Mitbürger und die Deutsche Sprache im Allgemeinen. Rund 400 Besucher aus 28 Ländern kamen nach Mannheim, um sich über die Entwicklung in Deutschland zu informieren.

Bereicherung statt Verfall

Screenshot der Internetseite: http://www.kiezdeutsch.de Erstellt am 15.03.2012 um 16:55 Uhr
Internetseite von kiezdeutsch

Die Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese von der Uni Potsdam untersucht seit längerem Sprachgewohnheiten im urbanen Raum. Sie betonte das "Potential multiethnischer Sprechergemeinschaften". Ihr Institut hat im Internet ein eigenes Informationsportal zum "Kiezdeutsch" eingerichtet, einer deutschen Form der Jugendsprache. Entwickelt wurde sie durch den Kontakt unterschiedlicher Sprachen und Kulturen vor allem in speziellen Bezirken größerer Städte. Bekanntestes Beispiel: Berlin-Kreuzberg. Die Sprachwissenschaftlerin weist daraufhin, dass es ähnliche Entwicklungen auch in vielen anderen europäischen Ländern gibt. Kiezdeutsch sei also kein rein deutsches Phänomen. Typisch für die Jugendsprache sind unter anderem verschiedenste Satzverkürzungen und das Weglassen von Artikeln: "Bin ich Haltestelle Zoo ausgestiegen" statt "Ich bin an der Haltestelle Zoo ausgestiegen." In der öffentlichen Wahrnehmung gilt das schlicht und einfach als falsches Deutsch. In Dialekten werde jedoch ganz ähnlich verkürzt, ohne dass die Form als falsch betrachtet würde. Kiezdeutsch sei kein gebrochenes Deutsch, sondern zeige neben grammatischen Vereinfachungen viel Kreativität. Außerdem sei diese Form der Jugendsprache auch nicht an die türkische Bevölkerung gebunden, sondern "ethnienübergreifend".

Code-Switching

Imken Keim, Professorin im Ruhestand, hat in langjährigen Projekten die mehrsprachige Lebenswelt vor allem von türkischstämmigen Jugendlichen untersucht. Ihre Ergebnisse zeigen einen deutlichen Kontrast. Die Jugendlichen wechselten routiniert und souverän zwischen Deutsch und Türkisch. Darüber hinaus wählten sie je nach Thema und Gesprächspartner die jeweilige Sprache aus, benutzten Worteinschübe zur Ironie und Differenzierung. Dieses Switchen und Mixen werde von Außenstehenden oft als "Kuddelmuddel" wahrgenommen. Tatsächlich aber zeige sich hier Einfühlungsvermögen und durch die Variationsfähigkeit große Sprachkompetenz. Denn die Jugendlichen könnten frei wählen und seien nicht an eine Sprache gebunden. Wachsen Kinder mit noch mehr Sprachen auf, zeige sich sogar eine noch weitergehende Differenzierung in Rhythmik und Inhalt. Als Untersuchungsort und Anschauungsbeispiel dienten der Sprachwissenschaftlerin zwei Stadtbezirke Mannheims mit jeweils 12.000 und 15.000 Einwohnern. In den dortigen Schulen und Kindergärten liegt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund bei 80 bis 90 Prozent.

ILLUSTRATION - Die Bildungslotsin Nehir Sahin (r) unterhält sich in Nürnberg (Mittelfranken) mit der russischen Migrantin Valentina Dobs (Foto vom 11.01.2012). Viele aus dem Ausland stammende Eltern können ihre Kinder nicht oder nur wenig in der Schule unterstützen. Teils wegen Sprachschwierigkeiten oder weil sie nicht wissen wie das bayerische Schulsystem funktioniert. Um für mehr Verständnis zu sorgen Eltern mit dem Bildungssystem und den verschiedenen Einrichtungen vertraut zu machen, rief eine Nürnbergerin mit türkischen Wurzeln 2009 das interkulturelle Projekt "Bildungslotse Nürnberg" ins Leben. 15 ehrenamtliche Bildungslotsen stehen Migranten inzwischen in Erziehungs- und Bildungsfragen mit Rat und Tat zur Seite. Foto: Daniel Karmann dpa/lby (zu dpa-Korr: "Bildungslotsen helfen Eltern mit Migrationshintergrund" vom 17.01.2012)
Freiwillige Bildungslotsen helfen Migranten im AlltagBild: picture-alliance/dpa

In früherer Zeit hatten Spachwissenschaftler für Menschen, die bilingual aufwachsen, den Begriff "Doppelte Halbsprachlichkeit" geprägt. Der sei diffamierend und gehe an der Realität vorbei, betont Inken Keim, denn hier sei nichts halb oder unvollständig. Nachholbedarf gebe es allerdings bei den schriftlichen Fähigkeiten. Vor allem an Hauptschulen sei die Kompetenz, sich schriftlich auszudrücken, oft zu niedrig. Das aber sei ein Problem der schulischen Vermittlung und nicht automatisch mit dem Migrationshintergrund verknüpft.

Je früher, desto besser

Spracherwerb kann nicht früh genug einsetzen, vertritt auch der Sprachwissenschaftler Arnulf Deppermann vom IDS in Mannheim. Sein Appell an die Politik: Für die Sprachbildung in Kindergärten und Tagestätten muss mehr getan werden. In Bezirken mit hohem Migrantenanteil seien diese Einrichtungen oft die einzigen, in denen Kinder Deutsch hörten. Was hier verpasst werde, könnte später in der Schule nur mit großen Schwierigkeiten ausgebügelt werden. Für eine angemessene Förderung sei mehr und vor allem besser ausgebildetes Personal notwendig: "Die Kinder brauchen hinreichend Input". Das Konferenzthema sei daher auch nicht zufällig gewählt, so Deppermann. Der Zusammenhang von Sprachfähigkeit, Identitätsbildung und Integration sei offensichtlich. Sie zu verbessern, eine der großen aktuellen politischen Herausforderungen.

Vermittlung braucht Wertschätzung

Für Imken Keim gehört zum erfolgreichen Lernen auch die frühe Vermittlung, dass die Muttersprache etwas Wertvolles ist und Mehrsprachigkeit ein großes kulturelles und auch wirtschaftliches Kapital darstellt. Den Kindern müsse gezeigt werden: "Du kannst viel". Bisher werde die Bewertung ihrer Ausdrucksfähigkeit allzu oft an einem standardsprachlichen Deutsch-Ideal gemessen. Dadurch bekämen die Kinder ein defizitäres Selbstbild. Positives Feedback sei nötig und die beste Motivation zum Lernen.