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Kinder auf der Flucht

Dirk Kaufmann5. Juni 2012

Wer aus seiner Heimat flieht, um Tod und Verfolgung zu entgehen, steht unter großem Druck – auch noch bei der Ankunft in einem sicheren Land. Besonders schwierig ist das für Kinder auf der Flucht.

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Die beiden Neffen einer Asylbewerberin aus Togo am 10. August 2006 in der Asylunterkunft "Salesheim" in Schwyz, Schweiz. (Quelle: dpa)
Bild: Picture-Alliance/KEYSTONE

Wer in ein fremdes Land kommt, dessen Sprache er nicht spricht und dessen Kultur ihm ein Buch mit sieben Siegeln ist, hat es natürlich schwer. Das gilt für Kinder um so mehr: Sie haben noch weniger Möglichkeiten, in einer fremden Sprache nach einem Wort zu suchen, haben in den meisten Fällen keine Erfahrung im Umgang mit Behörden und ahnen nicht einmal, welche bürokratischen Fallstricke auf sie warten.

Zurzeit leben 3000 bis 6000 Kinder in der Bundesrepublik, die ohne Eltern und nicht in Begleitung von Freunden oder anderen Verwandten eingereist sind. Sie kommen zumeist aus Afghanistan, Russland, Pakistan und dem Irak. "Diese Kinder sind besonders schutzbedürftig", sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, einer Organisation, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. "Sie können nicht übersehen, was für sie das Beste ist. Sie brauchen einen Vormund, der an ihrer Seite steht."

Clearing-Haus

Um das zu gewährleisten, so Burkhardt weiter, sei "ein europaweites Clearing-Verfahren" notwendig, um herausfinden zu können, was das Beste für das Kind ist. Mit einem Clearing-Verfahren verschafft man dem Flüchtling Zeit, sich über seine Lage klar zu werden: Will ich wirklich Asyl beantragen? Welche Gründe liegen dafür vor und kann ich das auch belegen? Kinder können diese Fragen meist gar nicht beantworten. Wenn sie ohne Familie angekommen sind, brauchen sie einen Vormund, der ihre Interessen vertritt.

In Deutschland gibt es bereits Einrichtungen, die das gewährleisten sollen, zum Beispiel das Clearing-Haus in Dortmund. Für Frank Binder, Referent für Asyl- und Flüchtlingsfragen der Stadt Dortmund, besteht die Aufgabe der Dortmunder Einrichtung vor allem darin, den Kindern Zeit und Ruhe zu geben. Das Haus bietet verschiedene Hilfen an: Sprachunterricht etwa oder die Vermittlung eines Vormundes. Auch medizinische und psychologische Betreuung gehört dazu.

Portraitbild Günter Burkhardt Foto: proasyl.de/de/ueber-uns/stiftung/presse/
Günter Burkhardt streitet für die Rechte von KinderflüchtlingenBild: PRO ASYL

Allerdings gibt es längst nicht genug Plätze. In Dortmund kann zurzeit für 40 Kinder gesorgt werden und "diese 40 Plätze sind auch belegt." Der Bedarf ist jedoch um einiges höher, denn "im letzten Jahr sind in Dortmund an die 400 unbegleitete Flüchtlinge angekommen" so Binder im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Zu früh rechtsmündig

In Deutschland ist man mit Vollendung des 18. Lebensjahres volljährig und damit auch voll geschäftsfähig. Von einem Kind, das aus seiner Heimat geflohen ist, wird aber erwartet, dass es schon im Alter von 16 Jahren eine so wichtige Frage für sich entscheidet, ob es Asyl beantragt oder nicht. Für Günter Burkhardt ist das so nicht hinnehmbar. "Das prangern wir seit Jahren an", sagte er gegenüber der Deutschen Welle. Er fordert, die Rechtsmündigkeit für Kinderflüchtlinge auf 18 Jahre heraufzusetzen.

Im Dortmunder Clearing-Haus sieht man dieses Problem auch. Hier sollen Vormunde helfen und die Jugendlichen beraten. Die Beratung, so Frank Binder, könne auch dazu führen, "dass der Jugendliche keinen Asylantrag stellt". Die vorrangige Aufgabe des Clearing-Hauses sei es, so der Flüchtlings-Referent, "integrative Maßnahmen zu organisieren", also den Kindern den Besuch von Kindertagesstätten oder Schulen zu ermöglichen. Deutschunterricht und Förderkurse sollen den Jugendlichen die Eingliederung in die deutsche Gesellschaft erleichtern.

Ein kleines Mädchen schaut in einen öffentlichen Mülleimer. (Quelle: dpa)
Kinderflüchtlinge bekommen weniger staatliche Unterstützung als deutsche KinderBild: picture-alliance/dpa

Fortgesetzte Diskriminierung

Die UN-Kinderrechtskonvention fordert, Kinder nicht zu diskriminieren. Aber das wird in Deutschland nicht umgesetzt, sagt Albert Riedelsheimer, Sprecher des "Bundesfachverbandes Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge". Als Beispiel dafür nennt er die Sozialhilfe. Ein deutsches Kind hat das Recht auf eine Unterstützung von 251 Euro im Monat nach den Hartz-IV-Regeln, ein Flüchtlingskind bekommt jedoch nur 132 Euro monatlich. Für Riedelsheimer ist das "Sozialhilfe Zweiter Klasse".

Die Sprecherin der Komission für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland, Sabine Skutta, bestätigt diese Zahlen. Sie weist darauf hin, dass diese Regel nicht nur gegen geltendes Völkerrecht verstößt, sondern auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, der im Grundgesetz verankert ist.

Abschiebehaft - ein politischer Skandal

Günter Burkhardt ärgert sich, dass Kinderflüchtlinge in Deutschland vernachlässigt und sozial diskriminiert werden und dass das Ausländerrecht Vorrang vor dem Wohl der minderjährigen Flüchtlinge hat. Eine Tatsache aber empört ihn besonders: Dass in Deutschland Kinderflüchtlinge "in den Knast" kommen können. Er hält das für inakzeptabel und fordert von der Bundesregierung, die Verhängung von Abschiebehaft für Minderjährige zu verbieten.

Wird ein Antrag auf Asylgewährung abgelehnt, muss der Flüchtling, wenn sein Aufenthalt in Deutschland nicht vorübergehend geduldet wird, das Land verlassen. Bis zur Abschiebung wird oft "Abschiebehaft" verhängt, der Flüchtling muss dann für einige Tage oder wenige Wochen ins Gefängnis. Das kann in Deutschland auch Jugendlichen passieren. Das prangert nicht nur Pro Asyl an, das beklagt auch der Vize-Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse. Thierse ist auch Schirmherr der Kommission für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und hält Abschiebehaft für Kinder und Jugendliche für einen "politisch-moralischen Skandal". Seiner Ansicht nach ist diese Praxis eine "Schande für den demokratischen Rechtsstaat".

Portrait von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse
Bundestagsvizepräsident Thierse: Ein politisch-moralischer SkandalBild: picture alliance / SCHROEWIG/Eva Oertwig