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Hunger durch Freihandel?

9. Januar 2012

Ein geplantes Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien bedroht das Menschenrecht auf Nahrung für viele Millionen Inder, sagen Nichtregierungsorganisationen. Ist die Existenz von Kleinbauern bedroht?

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Ein indischer Bauer füttert seine Kühe (Foto: DW/H.Jeppesen)
Indische Kleinbauern fürchten die Konkurrenz aus EuropaBild: DW

Die Europäische Union und die indische Regierung verhandeln derzeit über ein bilaterales Freihandelsabkommen. Die Unterzeichnung ist für Februar geplant. Mit dem Abkommen würden fast alle noch bestehenden Regulierungen des Handels zwischen den beiden großen Wirtschaftsmächten beseitigt werden.

Milch in einem Eimer (Foto: DW/H.Jeppesen)
Kann die einheimische Milchproduktion überleben?Bild: DW

Für viele Produkte sollen die indischen Schutzzölle abgeschafft werden, wie etwa für Milchpulver und Geflügelfleisch, aber auch andere Nahrungsmittelimporte aus der EU. Vor diesen Maßnahmen warnen das katholische Entwicklungshilfswerk MISEREOR, die Heinrich-Böll-Stiftung und die indische Nichtregierungsorganisation "Third World Network“.

Angst vor Billigimporten

In einer gemeinsam verfassten Studie zu dem geplanten Abkommen belegen die drei Nichtregierungsorganisationen, dass in bisherigen internationalen Handelsverträgen vereinbarte Zollsenkungen im Milch- und Geflügelsektor immer zu erheblichen Importsteigerungen aus der EU geführt haben. Mit gravierenden Folgen: "Sollten die indischen Schutzzölle für Milchpulver und Geflügelfleisch abgeschafft werden, dann wären die kleinbäuerlichen Familien den billigen Importen aus der EU schutzlos ausgeliefert“, befürchtet deshalb die Handelsexpertin der Heinrich-Böll-Stiftung, Christine Chemnitz.

Auf eine Marktöffnung bei diesen Produkten drängt innerhalb der EU vor allem die deutsche Bundesregierung. Das sei "unverantwortlich“, kritisiert Chemnitz. Denn der Milch- und Geflügelsektor in Indien sei "von hoher sozialer Bedeutung“ und trage "gerade für die besonders verletzlichen Gruppen wie Kleinbäuerinnen und Landlose wesentlich zum Einkommen bei."

Ein Metro-Großmarkt in Indien (Foto: metro)
Metro drängt auf den indischen MarktBild: metro

Besonders Kleinbäuerinnen bedroht

90 Millionen Menschen leben in Indien von der Milchwirtschaft und über 3,5 Millionen von der Geflügelhaltung. MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Josef Sayer verweist darauf, dass "in Indien schon heute 225 Millionen Menschen chronisch unterernährt sind, ein Viertel der Bevölkerung". Das geplante Handelsabkommen "würde die Einhaltung des Menschenrechts auf Nahrung für weitere Menschen akut gefährden“, warnt Sayer.

Auch der indische Einzelhandel, mit 37 Millionen Beschäftigten der zweitwichtigste Wirtschaftssektor des Landes, ist nach Überzeugung der drei Nichtregierungsorganisationen durch das geplante Freihandelsabkommen mit der EU bedroht. Denn im Zuge der Verhandlungen hat die Regierung in Neu Dehli inzwischen in Aussicht gestellt, dass europäische Einzelhandelskonzerne wie die französische Carrefour oder die deutsche Metro-Gruppe künftig in Indien Supermärkte eröffnen dürfen.

Straßenhändler finden kein Gehör

"Wenn die Supermärkte in den nächsten fünf Jahren so stark expandieren, wie Carrefour voraussagt, wird das nach unseren Berechnungen über eine Million Arbeitsplätze zerstören“, warnt der Handelsexperte von MISEREOR, Armin Paasch. Besonders betroffen wären laut Paasch Straßenhändler, die ohnehin häufig in Armut leben und kaum ein Chance auf alternative Einkommensquellen hätten. Im Dezember protestierten in allen großen indischen Städten mehrere Millionen Kleinhändler gegen die geplante Marktöffnung für Konzerne aus der EU.

Straßenhändler im indischen Patiala (Foto: DPA)
Straßenhändler im indischen PatialaBild: picture alliance/Yvan Travert/akg-images

Doch bislang "fanden die Interessen von indischen Kleinhändlern und Kleinproduzenten im Nahrungsmittelsektor kein Gehör", kritisiert Ranja Segupta, die Handelsexpertin des "Third World Network“ in Neu Dehli. Zudem hätten die Verhandlungen über das geplante Abkommen bislang "sowohl in Indien als auch in der EU komplett hinter verschlossenen Türen stattgefunden - unter Ausschluss der Zivilgesellschaft", bemängelt Sengupta. Die EU-Kommission und die indische Regierung hätten "auch offizielle Verhandlungstexte systematisch vor zivilgesellschaftlichen Gruppen geheim gehalten“.

Menschenrechte gehen vor

"Das muss sich jetzt ändern", verlangen die drei Nichtregierungsorganisationen in ihrer gemeinsamen Studie. Sie fordern die Verhandlungspartner in Brüssel und Neu Dehli auf, "eine umfassende Folgeanalyse des geplanten Abkommens für das Recht auf Nahrung und andere soziale Menschenrechte durchzuführen". Außerdem verlangen sie alle sensiblen Bereiche aus einem künftigen Abkommen auszuklammern und alle betroffenen sozialen Gruppen in die Verhandlungen einzubeziehen. Damit pochen die NGOs auf die Beachtung der im Sommer 2011 beschlossenen UN-Leitlinien über Wirtschaft und Menschenrechte.

Armin Paasch, Handelsexperte bei MISEREOR (Foto: misereor)
Armin Paasch von MISEREORBild: presse

Deshalb warnt die Vorsitzende der Heinrich-Böll-Stiftung, Barbara Unmüßig: Bevor "nicht klar ist", wie sich das geplante Freihandelsabkommen auf die Menschenrechte der besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen in Indien auswirkt, "wäre eine Unterzeichnung unverantwortlich“.

Autor: Andreas Zumach
Redaktion: Ulrike Mast-Kirschning