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Mauern einreißen in der Wissenschaft

Anne Hoffmann10. November 2015

Falling-Walls-Konferenz in Berlin: Hierher zieht es Wissenschaftler, die an alten Dogmen rütteln, um die Gesellschaft voran zu bringen. Querdenker allesamt, die sich nicht darum kümmern, was als machbar gilt oder nicht.

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Deutschland Falling Wall Konferenz Berlin
Die aus der Türkei stammende Soziologin Nilüfer Göle bei ihrem Vortrag bei der Falling-Walls-KonferenzBild: DW/A.Hoffmann

Die Falling-Walls-Konferenz will aufrütteln, Mut machen, Visionen für eine umwelt- und menschenfreundlichere Gesellschaft entwerfen. Es geht um die drängendsten Fragen der Zeit: Sicherheit, digitale Demokratie, den Kampf gegen gefährliche Infektionskrankheiten, um Klimawandel und die Flüchtlingskrise.

Europa - Bollwerk oder Schmelztiegel

Nilüfer Göle, türkische Soziologin, erzürnte einst die islamischen Wächter der säkularen Lehre. Nicht durch ihre auffällige Erscheinung - zum Beispiel trägt sie ihre rote Lockenpracht gerne offen - sondern durch klare Äußerungen. Etwa zu Moderne und Kopftuch. In ihrem Pariser Exil kann sie jetzt ungestört forschen und lehren. An der renommierten École des Hautes Études en Science Sociales denkt Göle über die Zukunft des Islam in Europa nach.

Ihre Themen: Wie können Islam und Europa zusammengehen? Wie sieht Europa sich selbst - als Kontinent? Der neue Mauern baut oder als Ort der Verschmelzung? Brandaktuelle Fragen, angesichts hunderttausender Flüchtinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, die nach Europa drängen.

Nilüfer Göle schlägt die Zuhörer in ihren Bann, obwohl es schon ziemlich spät am Tag ist und die Konzentration bei so manchem nachzulassen droht. Es ist mucksmäuschen still im Saal. Die Soziologin nimmt kein Blatt vor den Mund und liest den Europäern die Leviten. Sie kritisiert, dass viele Menschen ihre direkten Nachbarn, ganz "normale" Muslime oft kaum wahrnähmen. Und den Islam entweder mit sozialen Problemen verbinden oder als Religion sehen, die sich nicht reformiert habe.

Gegenüber der DW sagt sie, dass die europäische Perspektive sehr einseitig sei, führt den Kopftuchstreit als Beleg an. Denn Kopftuchfrauen könnten durchaus modern sein, aber sie wollten sich nicht einfach westlichen Ideen von Individualismus und Sexualität unterwerfen. "Sie suchen nach Wegen, zugleich Muslimin zu sein und modern, dabei beides verändernd", sagt die Soziologin. Es gebe viele Wege in die Moderne. Muslime und Nichtmuslime sollten sich gemeinsam reale Plätze schaffen, um sich zu begegnen. Und dabei könnten sich Sozialwissenschaftler als "Übersetzer" anbieten und nicht - wie so oft - als Verteidiger von Normen auftreten. Dazu brauche es mehr Kreativität. Kluge Konzepte anstelle des Zusammenpralls der Kulturen.

Wilder Konsum und viel Wasser

Wegschauen heißt Mauern bauen. Deshalb legen viele der Redner den Finger auf genau die Wunden, die wir gerne ignorieren. Der Niederländer Arjen Hoekstra, Gründer des "Water Footprint Network", erklärt, wie viel Wasser wir Deutschen verbrauchen: 3900 Liter pro Tag. Dabei fallen Duschen, Waschen oder Kochen kaum ins Gewicht. Haushalte verbrauchen nur zwei Prozent der täglichen Wasserflut, zehn Prozent gehen zu Lasten der Industrie. Den großen Rest verschlingt unser Konsum, allen voran Nahrungsmittel.

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DW-Autorin Anne Hoffmann im Gespräch mit Arjen Hoekstra, vom "Water Footprint Network"Bild: DW/A.Hoffmann

Und dabei wird das meiste Wasser nicht in Deutschland verbraucht, sondern für Erdbeeren und Oliven aus Spanien, Sojabohnen aus Brasilien, Rosen aus Kenia, Baumwolle aus Indien. Für ein Kilo Fleisch etwa braucht es 20 mal soviel Wasser wie für die gleiche Menge Getreide. Das ist nur eine der Zahlen, die bei der Konferenz ein Raunen durch die Reihen gehen lässt. Hier und da betretene Gesichter.

Und Arjen Hoekstra verschafft den Zuhörern ein weiteres Aha-Erlebnis: Um sauberes Wasser zu erhalten, wird auch immer mehr Energie verbraucht und um Strom und Wärme zu gewinnen immer mehr Wasser. Um noch die letzten Öl- und Gasreserven aus dem Untergrund zu spülen. Doch vor allem für den Anbau von Biomasse als Energieträger. "Absolut nicht nachhaltig", meint der Wasserexperte. "Nachhaltig sind nur Wind und Sonne."

Kohle und Klima

Das sieht Ottmar Edenhofer ähnlich, der Chef-Ökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Direktor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC). Er ist im Vorfeld der Klimakonferenz im Dezember in Paris so beschäftigt, dass er nicht mal Zeit für ein Interview hat. Eindringlich fordert er in seinem Vortrag ein Umdenken.

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Ottmar Edenhofer, Chef-Ökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, in BerlinBild: DW/A.Hoffmann

Die Energiepolitik müsse sich radikal ändern, jetzt. Und das heißt vor allem: Raus aus der Kohle! Kohle ist weltweit beliebt, kommt sie doch in vielen Gebieten reichlich vor. Zudem ist sie billig im Vergleich zu Erdgas oder Erneuerbaren Energien. Hinzu kommt, dass Regierungen weltweit Öl, Gas und Kohle sogar subventionieren.

Der Klimaökonom warnt: "Das Zeitfenster für einen weltweiten Kohleausstieg schließt sich immer schneller." Denn vor allem arme, aber schnell wachsende Entwicklungsländer investierten derzeit massiv in den Bau neuer Kohlekraftwerke. Wenn nur ein Drittel davon realisiert werde, gelangten dadurch über die Jahre 113 Gigatonnen Kohlendioxid zusätzlich in die Atmosphäre. Das Zwei-Grad-Ziel rücke damit in weite Ferne.

Will die Menschheit es schaffen, Umwelt, Rohstoffe und Ressourcen wirklich zu schonen, dann müssen Spitzenforscher weltweit kooperieren und die Politik mitnehmen. Dazu braucht es solche Zusammenkünfte wie die Falling-Walls- Konferenz in Berlin.