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Politik

Masouds wertvolle Liste

17. Oktober 2017

Die deutschen Geheimdienste setzen zunehmend auf Hinweise von Flüchtlingen im Kampf gegen den IS. Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen hält ihre Angaben für "80 Prozent belastbar". Ein Report von Frank Hofmann.

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IS-Opfer Masoud Aqil
Bild: DW/Axel Warnstedt

Masouds Liste - Vom IS-Opfer zum Terroristen-Jäger

Es ist ein unangenehmes Wiedersehen: In deutschen Flüchtlingsheimen treffen zuweilen Täter und Opfer aus dem syrischen Bürgerkrieg aufeinander. Der deutsche Inlandsgeheimdienst will deshalb Asylbewerber verstärkt in die Suche nach Kriegsverbrechern einbeziehen und hat ein Hinweistelefon geschaltet, das sich an Tippgeber aus der Flüchtlingsszene richtet.

"Wir stellen fest, dass es inzwischen viele hundert Hinweise gibt, die uns aus der Asylbewerber-Szene in Deutschland erreichen. Wir gehen davon aus, dass es sich in vielen Fällen um echte und wahre Hinweise handelt, denen nachgegangen werden muss", sagt Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, im Interview mit der Deutschen Welle. Weit über 80 Prozent der Hinweise seien belastbar.

Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen
Hans-Georg Maaßen, Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes, will mehr auf die Informationen aus der Flüchtlingsszene im Anti-Terrorkampf setzenBild: picture alliance/dpa/K. Nietfeld

Bei den Denunziationen handele es sich nicht um Denunziationen, sondern um potentielle Gefährder. "Wir sehen zum einen die Gruppe der Terroristen des sogenannten Islamischen Staates (IS), die mit dem Auftrag, Terroranschläge zu begehen, nach Europa gekommen sind: Wir haben bisher mindestens 20 Personen identifiziert, die vermutlich mit Plänen für Anschläge nach Europa kamen", so Maaßen. "Die andere Gruppe sind IS-Kämpfer, die vielleicht schwere oder schwerste Kriegsverbrechen begangen haben. Sie kommen als Asylsuchende getarnt hierhin, und wollen sich einfach vom Kampfgeschehen absetzen."

Im Namen der Opfer 

Der syrische Kurde Masoud Aqil, der Anfang 2016 als Flüchtling über die Balkanroute nach Deutschland kam, gehört zu den Flüchtlingen, die den deutschen Behörden beim Aufspüren von Terroristen helfen wollen. Gerade als Opfer von Folter in den Gefängnissen des IS ist er von seiner Mission überzeugt: "Den IS zu bekämpfen ist für mich eine Pflicht."

Bereits im August hatte die DW in einem exklusiven Beitrag über den Videojournalist aus Syrien berichtet. Nun zeigt die DW exklusiv in vier Sprachen die TV-Dokumentation "Masouds Liste - Vom IS-Opfer zum Terroristenjäger".

Der syrische Kurde Masoud Aqil, der in seiner Heimat als Videojournalist arbeitete, war von 2014 bis 2015 Gefangener der Islamisten in sechs verschiedenen Gefängnissen in Syrien. Am längsten, 100 Tage, war er im Fußballstadion der Islamisten-Hochburg Rakka eingekerkert.

Nach 280 Tagen Gefangenschaft kam er im September 2015 durch einen Gefangenenaustausch frei und flüchtete nach Deutschland. Hier bemerkte Aqil, dass der IS schon da war - und damit die Anhänger seiner furchtbarsten Peiniger.

Breitscheidplatz - Masoud Aqil im DW Interview
Kooperation mit den Behörden ist Pflicht: IS-Folteropfer Masoud Aqil am Berliner Breitscheidplatz Bild: DW/F. Hofmann

Mindestens drei IS-Anhänger habe er persönlich wiederkannt, so Masoud Aqil. In nächtelangen Recherchen im Internet stieß er auf weitere Duzende und stellte eine Liste zusammen, die er der Polizei übergab. Zudem schrieb er ein Buch über seine Erfahrungen. Sein Wissen und seine Hinweise werden laut Bundesverfassungsschutz bei den Ermittlungsarbeiten immer wichtiger.

"Das Aufsehenerregende an dem Fall ist, dass Masoud Aqil seine Peiniger wiedererkannt haben will", sagt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Der Nahost-Experte wird auch von deutschen Gerichten als Gutachter bestellt, um die Aussagen von Flüchtlingen zu bewerten.

Wer sagt die Wahrheit?

Nach Einschätzung Steinbergs beschreiben die Hinweise des nach Deutschland geflüchteten Kurden Masoud Aqil keinen Einzelfall: "In der Fluchtbewegung 2014/2015 aus Nordsyrien sind sehr viele Angehörige von militanten Organisationen nach Deutschland gekommen. Da gehört der IS oder noch andere dazu. Und es gibt viele Fälle aus Flüchtlingskreisen, in denen Syrer Informationen über angebliche, teilweise wirkliche Mitglieder des IS an die Sicherheitsbehörden weitergeben", sagt Steinberg.

Allerdings gebe es keine Garantie auf Wahrheit – der Wissenschaftler ist zumindest skeptisch im Gegensatz zum Chef des Inlandsgeheimdienstes: "Ein ganz großer Teil der Informationen, die von Flüchtlingen geliefert werden, sind Denunziationen und sie sind falsch. Deswegen muss man sehr vorsichtig mit diesen Vorwürfen umgehen", warnt der Wissenschaftler.

Aushorchen mit System

Die Zusammenarbeit bei Ermittlungen mit Flüchtlingen hat in Deutschland Tradition. Während der Kalten Krieges schöpften die Bundesrepublik und West-Berlin jahrzehntelang über den deutschen Auslandsgeheimdienst BND (Bundesnachrichtendienst) Hinweise von Flüchtlingen – damals vor allem aus dem Ostblock –  ab: Die "Hauptstelle für das Befragungswesen" war dem Bundeskanzleramt zugeordnet. Ihre Agenten arbeiteten eng mit den früheren amerikanischen Gründern der Einrichtung zusammen, so dass Jahrzehnte später offenbar auch Informationen für den US-Drohnenkrieg von hier weiter geleitet wurden – illegal nach deutschem Recht.

Deshalb wurde die "Hauptstelle für das Befragungswesen" 2014 auf Druck aus dem Bundestag geschlossen. Nun nimmt der Bundesverfassungsschutz die aktiven Befragungen wieder auf – neben den Sachbearbeitern im Bundesamt für Migration sitzen dort künftig auch Inlands-Agenten. Bis 2019 sollen viele zusätzliche Stellen werden. "Wir müssen es tun", sagt Verfassungsschutzpräsident Maaßen. 

Deutzschland Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Bingen am Rhein
Mit am Tisch: Bei Interviews mit Asylbewerbern sollen künftig auch Inlandsagenten mit dabei seinBild: picture-alliance/dpa/F. von Erichsen

Gezielte Desinformation

Doch gegen die Informationsgewinnung bei Flüchtlingen regt sich Kritik – besonders in den Fällen Syrien und Irak. "Da gibt es oft ganz handfeste politische Interessen", sagt Wolfgang Kaleck. Der Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation "European Center for Constitutional and Human Rights"(ECCHR) warnt davor, die Hinweise einfach unkritisch zu verwenden. Unter den Flüchtlingen seien Anhänger unterschiedlicher Konfliktparteien in Syrien, "die wie nach jedem Krieg auch alte Rechnungen offen haben".

Kalecks Organisation vertritt unter anderem den ehemaligen Mitarbeiter der syrischen Militärpolizei mit Decknamen "Caesar", der zahlreiche Fotos aus den Foltergefängnissen des syrischen Assad-Regimes nach Europa geschmuggelt hat. Gemeinsam mit einer Unterstützergruppe von "Caesar" hat das ECCHR Anzeige gegen hochrangige Mitglieder der syrischen Geheimdienste und der Militärpolizei bei der deutschen Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe gestellt.

Vorausgegangen waren langwierige Recherchen, bei denen die Fotos mit anderen Informationen abgeglichen wurden. "Einzelne Hinweise allein können schnell dazu führen, dass auch Unschuldige zu unrecht in den Fokus der Behörden in Europa geraten", sagt Kaleck. "Im Übrigen befürchte ich, dass Gegner von Migration und Flüchtlingen die Tatsache ausnutzen, dass sich in der großen syrischen Community auch einzelne Tatverdächtige befinden, obwohl die überwiegende Zahl der Geflüchteten entweder direkt oder mittelbar Opfer von Gewalt sind."