Stimme aus dem Grab
8. November 2012Wenn einer der Großen der Weltliteratur seine Autobiographie veröffentlicht, ist ihm allgemeine Aufmerksamkeit sicher. Erst recht, wenn der Autor bereits 1910 verstarb – und unter dem Künstlernamen Mark Twain Weltruhm erwarb. Eine Zeitspanne von einem Jahrhundert solle vergehen, bis seine Lebenserinnerungen der Welt zugänglich gemacht werden dürften, so verfügte es der Autor von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, jetzt hat der Aufbau-Verlag die deutsche Übersetzung herausgegeben. 2010 erschien bereits die englische Version.
"Ich spreche buchstäblich aus dem Grab, denn wenn das Buch aus der Druckerpresse kommt, werde ich tot sein." Twain erklärt den Sinn der posthumen Veröffentlichung: "Aus gutem Grund spreche ich aus dem Grab statt mit lebendiger Zunge: So kann ich frei reden." Twain, der unter dem Namen Samuel Langhorne Clemens 1835 das Licht der Welt erblickt hatte, war sich also bewusst, dass seine Autobiographie durchaus das eine oder andere Ego seiner Zeitgenossen ankratzen könnte.
Fauxpas bei Kaiser Wilhelm II.
Für die deutschen Leser bietet Twain, der einige Zeit in Berlin und Wien gelebt hatte und generell viel für Deutschland übrig hatte, einiges Amüsantes. Bekanntschaft mit Twains Redeeifer machte 1901 zum Beispiel Kaiser Wilhelm II. Als beide bei einem Mahl zu Gast waren, übermannte Twain wohl der Hunger, und so rief er unaufgefordert dem Kaiser beim Auftragen der Kartoffeln einen lauten Willkommensruf für die Erdäpfel zu. Für peinliche Manöver war doch eigentlich eher der deutsche Monarch bekannt.
Daneben bietet Twain für die Deutschen auch andere Perlen seiner Erzählkunst: "Die Schreckliche Deutsche Sprache" lautet der Titel eines seiner weniger bekannten Werke. Twain erprobte sich am Deutschen, stand aber mit dem Idiom auf Kriegsfuss. Selten ist das Deutsche so ironisch auf die Schippe genommen worden wie hier. Und auch in der Autobiographie muss Twain seiner Empörung über die deutsche Neigung zu Komposita Luft machen: „Attentäterlattengitterwetterkotterbeutelratte“. Au weia …
Ein schwieriges Vorhaben
Was aber – neben Anekdoten - bietet die "geheime Autobiographie" des großen Moralisten, der sich schon zu Lebzeiten nicht vor deutlichen Worten scheute? Wichtig ist, sich ihre Art und Entstehungsweise vor Augen zu führen. Über 35 Jahre lang beschäftigte sich Twain mit dieser kolossalen Aufgabe und erprobte unterschiedliche Wege. Letzten Endes entschied sich der "König" – wie sein Spitzname lautete – gegen das sonst übliche Prinzip einer chronologischen Erzählung und diktierte seiner Stenotypistin frei über unterschiedlichste Gegebenheiten und Personen, die er für erinnerungswürdig hielt. Aus diesen Diktaten besteht ein Großteil des Buches. Genau darin liegt allerdings auch die Schwierigkeit für den Leser, Twains Ausführungen zu folgen: Orte, Länder und Personen wechseln ständig, zur Orientierung ist der Autobiographie im Umfang von knapp 700 Seiten ein fast 400 Seiten (!) starker Begleitband beigefügt, der Orientierung gibt.
Ein Familienmensch
Allerdings ist es nicht immer derart leichte Kost, die Twain bietet. Die Lektüre lohnt sich dennoch, denn auf eine Sache verstand sich: außerordentlich spannend zu erzählen. Die Erinnerungen an seine Jugend, Personen, die ihm wichtig waren (oder die er abstoßend fand) und viele kleine sprachliche Schätze machen das Buch zu einer lesenswerten Lektüre. Einblicke in seine Gefühlswelt lassen den wahren Samuel Clemens aufleuchten. Besonders ergreifend sind die Passagen, die von der Liebe zu seiner Frau Olivia und besonders zu seiner Tochter Suzy, die im Alter von nur 24 Jahren starb, handeln. Suzy, ein anscheinend äußerst aufgewecktes Kind, verfasste im zarten Alter von 13 Jahren eine Biographie ihres vergötterten Vaters, die Mark Twain seiner Autobiographie angefügt hat. Dank Suzy wissen wir, warum Twain der Kirche gerne fernblieb: "Neulich erzählte er uns, er kann es nicht ertragen, jemanden anders als sich selbst reden zu hören, sich selbst aber kann er stundenlang reden hören, ohne zu ermüden ..."
Twain wäre nicht Twain, wenn er nicht auch die Politik seines Heimatlandes kritisch hinterfragen würde: Der Spanisch-Amerikanische Krieg von 1898 ist für ihn eine "Schmierenkomödie", ein Massaker der US-Truppen an Aufständischen auf den Philippinen, das offiziell als "Heldentat" gerühmt wurde, benennt er als das, was es tatsächlich war: ein "Gemetzel".
Für die kommenden Jahre sind zwei weitere Bände der Autobiographie von Mark Twain in Aussicht gestellt, wer Gefallen an den ersten 700 Seiten gefunden hat, hat also Grund zur Freude. Nicht zuletzt sei hier noch die Sprachkunst des Übersetzers gewürdigt, der Twains ausdruckstarke Sprache gebührlich ins Deutsche übersetzt hat.
Mark Twain: Meine geheime Autobiographie, Herausgegeben von Harriet Elinor Smith, übersetzt von Hans-Christian Oeser, Hintergründe und Zusätze. Aufbau Verlag, Berlin 2012, 1129 Seiten, 49,90 Euro
ISBN 978-3-351-03513-6