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Montessoris Erben

Aygül Cizmecioglu10. Januar 2007

Seitdem die Pisa-Studie Defizite bei der Schulbildung in Deutschland festgestellt hat, erfahren Alternativangebote wie Montessori-Einrichtungen regen Zulauf - trotz der mitunter hohen Kosten, die für Eltern entstehen.

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Erfinderin der Montessori-Erziehung: Dr. Maria Montessori (1938)
Erfinderin der Montessori-Erziehung: Die Italienerin Dr. Maria Montessori (1938)Bild: AP

Kein Herumtoben, keine schreienden Kinder, kein Lärm. Wenn man durch die orangefarbene Tür des Montessori-Kinderhauses in Berlin-Wilmersdorf tritt, erwartet einen zunächst Stille. Die vierjährige Pauline liegt bäuchlings auf dem Teppichboden und setzt Holzfiguren zu einem Puzzle zusammen. Währenddessen füllt der sechsjährige Jonas getrocknete Bohnen in eine Schüssel - hochkonzentriert und jede einzelne Bohne leise vor sich hin zählend.

Kind als Persönlichkeit

An den sonnengelben Wänden klebt ein riesiges Plakat. In krakeliger Schrift steht darauf: "Hilf mir, es selbst zu tun!" - der Leitspruch der Montessori-Pädagogik. Raiko Wildgrube ist Erzieher in dem Berliner Kinderhaus. Der 37-Jährige geht langsam durch die verwinkelten Räume und schaut zunächst zu. Er gibt den Kindern erst Hilfestellungen, wenn sie danach fragen.

2 Schüler lesen
Diese beiden Schüler einer deutsch-türkischen Schulklasse in Berlin, lernen gemeinsam nach Montessoris Leitgedanken (Archivfoto)Bild: dpa

"Es gibt in der Montessori-Pädagogik keine Animation, im Sinne von 'Ach, liebe Kinder, ich zeige euch mal, was gut für euch sein könnte'", sagt Wildgrube. "Die Kinder können selbst auf eine Entdeckungsreise gehen und gucken, was sie heute interessiert. Sie dürfen selbst darüber bestimmen." In den Montessori-Kinderhäusern werde das Kind als eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen angenommen. Kinder, die das machen dürften, was sie möchten, seien nicht aggressiv, nicht laut, sondern sie versänken darin und würden still, meint der Erzieher.

Keine Kuschelerziehung

Die Freiheit des Kindes hat in der Montessori-Pädagogik oberste Priorität. Doch eine "Kuschelerziehung ohne Grenzen", wie einige Kritiker ihr vorwerfen, ist sie nicht. Es gibt festgelegte, wenn auch wenige Regeln. Jedes der Holzspielzeuge und Lernmaterialien gibt es nur einmal. Das heißt, wenn ein anderes Kind damit spielt, muss man warten und darf es nicht dabei stören.

Im Vordergrund steht immer die sinnliche Wahrnehmung der Gegenstände - riechen, fühlen, schmecken. Die Kinder fahren mit ihren Händchen über Sandpapierbuchstaben und lernen so das Alphabet. Sie wiegen Tomaten ab und messen, wie lang ein Bleistift ist, um ein Gefühl für Größen zu bekommen. Statt abstraktem Frontalunterricht in überfüllten Klassen gibt es praktische Lebens- und Lernhilfe in kleinen Gruppen.

Großes Interesse

Dieser pädagogische Luxus ist gefragt. Frauke Probst meldete ihre Tochter Yosana noch während der Schwangerschaft im Berliner Montessori-Kinderhaus an. Wartezeiten von zwei Jahren sind oft die Regel. Bundesweit gibt es derzeit knapp 1000 freie Kindergärten sowie Grund- und Oberschulen, die nach dem Montessssori-Prinzip arbeiten.

"Sie bekommt hier die Möglichkeit, dass sie sich sehr individuell entfalten kann", sagt Probst. "Wir haben noch einen größeren Sohn und der hat einen städtischen Kindergarten besucht. Und ich habe das Gefühl, dass Yosana sich im Gegensatz zu ihrem Bruder sehr klar entscheidet, womit sie spielen möchte und das dann auch sehr konsequent tut."

100 Jahre Montessori

Maria Montessori entdeckte diese Lerneffekte vor 100 Jahren. Die Italienerin absolvierte als erste Frau in ihrem Land das Medizinstudium und arbeitete anschließend als Ärztin und Erzieherin in den Elendsvierteln Roms. Ihre Erfahrungen, die sie dort mit Kindern machte, baute sie später zu einer Alternativpädagogik aus.

Das Wohlbefinden der Kinder hat seinen Preis. Eltern zahlen monatlich bis zu 300 Euro für die Betreuung eines Kindes. Montessori-Einrichtungen werden in Deutschland nur zum Teil vom Staat bezuschusst und sind häufig in freier Trägerschaft. Die Eltern übernehmen oft Renovierungsaufgaben oder kochen mal das Mittagessen. Auch die Ausbildung zum Montessori-Pädagogen beruht auf Eigeninitiative. Sie gilt in Deutschland als Zusatz-Eignung und nicht als Voll-Qualifikation. Anders in den Niederlanden oder den USA, wo die Montessori-Pädagogik als zweiter Bildungszweig staatlich anerkannt ist.

Die rechtlichen Voraussetzungen interessieren die Kinder im Berliner Kinderhaus freilich nicht. Viele werden nach den Sommerferien in die Montessori-Grundschule gleich nebenan wechseln. Von Leistungsdruck und Erwartungsstress ist nichts zu spüren. Das einzige was sich ändern werde, sei die Farbe der Tür, wirft Yosana ein: Die ist dann nicht mehr orange, sondern grün.