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Der Mannheimer Jungbusch

Vera Kern18. April 2013

Mannheim ringt mit seinem Image als triste Industrie- und Arbeiterstadt. Doch zwischen abbröckelnden Fassaden und türkischen Gemüseläden mausert sich der Jungbusch, ein ehemaliges Hafenviertel, zum kreativen Zentrum.

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Die Promenade am Verbindungskanal im Mannheimer Stadtteil Jungbusch
Promenade am Verbindungskanal im Mannheimer Stadtteil JungbuschBild: DW/V. Kern

Die Hafenstraße im Jungbusch. "Wunder der Prärie" verspricht ein Banner in roten Lettern an einem heruntergekommenen Backsteingebäude. Nach Wundern sieht es auf den ersten Blick nicht aus: Die Mittagssonne knallt auf die Industriebrache, hier zerbrochene Fensterscheiben, da wilde Schichten von Plakaten und Streetart, ein Straßenschild hängt schief. "Früher hat man es vermieden, hierher zu kommen", erzählt der Sozialarbeiter Mehmet Ungan, der seit vielen Jahren im Jungbusch arbeitet.

Heute ist das anders. Es gibt Cafés, ein veganes Restaurant, hippe Bars, gemütliche Kneipen - und vor allem Kunst und Kultur. Der Wandel des einst als No-Go-Area verschrienen Arbeiter- und Rotlichtbezirks Jungbusch wird von der Stadt bewusst gesteuert. Teil des Kalküls: Mannheim will 2020 Europäische Kulturhauptstadt werden.

Der Jungbusch - vom Arbeiterviertel zum Kunsthotspot

Künstler haben im Jungbusch schon lange ihre Ateliers - die Mieten sind günstig, das Nicht-Perfekte an der Umgebung interessant, die Lage noch zentral genug. Im Hinterhof einer ehemaligen Getreidemühle verbirgt sich etwa das Künstlerhaus "zeitraumexit“, das die "Wunder der Prärie" aus der Taufe gehoben hat: ein mehrtägiges, internationales Festival. Es verschränkt Performance, Bildende Kunst, Theater- und Tanzproduktionen miteinander und will so experimentell wie möglich sein. "Mannheim war nie Prärie, wurde aber von außen so wahrgenommen", meint Gabriele Oßwald vom Kuratorentrio.

Portrait Tilo Schwarz, Gabriele Oßwald, Wolfgang Sautermeister, Foto: DW
Die Kuratoren des Veranstaltungsorts "zeitraumexit": Tilo Schwarz, Gabriele Oßwald, Wolfgang SautermeisterBild: Peter Empl

Dieses Jahr im Fokus des Festivals: stadtplanerische und gesellschaftliche Veränderungsprozesse von Vierteln wie dem Jungbusch. "Wir wollten nicht nur zugucken und dann sagen: die böse Gentrifizierung", erklärt Kurator Tilo Schwarz. "Es interessiert uns, dass Mannheim weg will vom Image der ewig alten, unattraktiven Industriestadt."

Gar nicht trist: Schokolade und Musik

Zur alten Industriestadt gehört auch die Schokoladenfabrik. Sie ist immer noch in Betrieb, im ganzen Viertel riecht es nach Schokolade. Einst zog die Fabrik viele Gastarbeiter aus Europa an. Heute leben Menschen aus über 80 Ländern hier. Neben der Popakademie, einer Hochschule für angehende Popstars, gibt es deshalb auch die Orientalische Musikakademie. Kulturelle Vielfalt ist hier Programm: "Wenn man sich nicht begegnet, hat man eher Angst vor dem Anderen", ist sich Sozialpädagoge Ungan sicher. Er sitzt auf einem Rattanstuhl und spielt Oud, die orientalische Laute. Eine Hälfte des Raumes ist komplett mit Perserteppichen und roten Sitzkissen ausgelegt. Ungan ist auch Musiker und einer der Gründer der Akademie, die Workshops zu Musikinstrumenten wie Oud, Saz, Ney, Tabla oder Sitar gibt. Das Besondere: Die Teilnehmer reisen schon mal aus Brüssel an, um hier bei renommierten Musikern zu lernen. Wenn gerade keine Konzerte oder Kurse sind, lernen Kinder aus der Nachbarschaft, wie man eine orientalische Flöte baut oder mit türkischer Marmorierkunst malt. Dann ist die Akademie ein soziokulturelles Zentrum.

Mehmet Ungan (rechts), Vorsitzender der Orientalischen Musikakademie Mannheim, beim Oud-Spielen; Copyright: DW/V. Kern
Orientalische Klänge: Mehmet Ungan zupft die OudBild: DW/V. Kern

Ein Kunstsalon für Nicht-Kunstinteressierte

Abends dringt ein paar Häuser weiter Soul der 70er Jahre nach draußen. "Strümpfe" steht in einer Retro-Werbeschrift über der Tür. Drinnen: gut gelaunte Menschen mit Bierflasche oder Weinglas in der Hand. Da sind der Vollbart-Hornbrillen-Hipster, der Mittfünfziger im Jackett, Tätowierte mit Dreadlocks. Eine entspannte Party, denkt man. Doch das hier ist keine Bar, sondern die Galerie “Strümpfe - The Supper Artclub“. In dem ehemaligen Strumpfgeschäft stellen Eric Carstensen und Andreas Zidek aus - "für Kunstinteressierte und für Nicht-Kunstinteressierte", wie sie sagen. "Die Leute sollen sich wohl fühlen und mit der Kunst auseinander setzen können. Nicht müssen", so Carstensen, der hinten in dem ehemaligen Laden auch lebt. Die Galerie ist sein Wohnzimmer. Es gibt Sitzecken, Nierentischchen mit Biedermeiersesseln und Ledersofas.

Galerie Strümpfe im Mannheimer Jungbusch, Foto: DW
Kein White Cube: die Galerie "Strümpfe"Bild: DW/V. Kern

Eric Carstensen geht zwischen den Besuchern rum: "Will jemand Currywurst?" Manche sehen sich die Fotografien an der Wand an. Eine Frau mit schwarzem Hut und kirschroten Lippen betrachtet jedes Bild ganz genau. Sie ist selbst Fotografin und gerade erst von Berlin nach Mannheim gezogen: "Hier hat man keine Berührungsängste, es ist angenehm nahbar." Ein Typ mit gelber Wollmütze rätselt vor den Bildern: "Ich frage mich, was das Thema ist - Formen und Linien vielleicht?" Aber eigentlich ist ihm das egal, er ist nicht wegen der Kunst hier, sondern "weil's einfach cool ist". Der Jungbusch - ein bisschen hip, ein bisschen schnoddrig. "Dschümbüsch" sprechen manche türkischstämmigen Bewohner das Wort Jungbusch aus. Im Türkischen gibt es das Wort Cümbüş. Übersetzt heißt das: Halligalli.