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Macht und Ohnmacht

11. April 2003

Europa sieht die Vereinigten Staaten als arrogant, kriegerisch, undiplomatisch; die Vereinigten Staaten betrachten Europa als erschöpft, uneins und schwach. Robert Kagan untersucht die Gründe für das Unverständnis.

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Es geht ein Riss durch die transatlantischen Beziehungen. Die alte Wertegemeinschaft zwischen den europäischen und den amerikanischen Verbündeten ist mit dem Beginn des Irak-Krieges so existenziell in Frage gestellt, wie seit Jahrzehnten nicht. Was sind die Gründe für das Unverständnis? Was trennt die alten Verbündeten? Warum denken und handeln sie so unterschiedlich?

Es war einmal eine Interessengemeinschaft

Diesen Fragen geht der amerikanische Journalist Robert Kagan in seinem klugen und weitsichtigen Buch "Macht und Ohnmacht" nach. Die amerika-kritischen Europäer betrachten die militärisch und wirtschaftlich mächtigen USA mit Argwohn, nehmen die Regierung in Washington als überheblich, kriegerisch und undiplomatisch wahr. In Amerika wird Europa hingegen als militärisch unbedeutend, zerstritten und kraftlos empfunden.

Jenseits dieser Wahrnehmung zeigt Kagan die tieferen Ursachen für ein Auseinanderdriften der ehemaligen Interessengemeinschaft auf: die Europäer haben ein Jahrhundert der Zerstörung hinter sich und die Erfahrung des Krieges in all seinen Schrecken sitzt so tief, dass der Wunsch nach friedlichen Strategien zur Beilegung von Konflikten absolute Priorität hat. Die USA hingegen betrachten sich insbesondere nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als einzige Garantiemacht, die willens und militärisch in der Lage ist, aktiv - und notfalls mit Gewalt - die Welt zu ordnen.

"Postmodernes Paradies"

Kagan hat recht, wenn er darlegt, dass die USA in den vergangenen Jahren im Gegensatz zu den Europäern bereit waren, Verantwortung zu übernehmen, auch zum Schutze anderer Staaten: etwa im dreieinhalbjährigen Bosnien-Krieg, der erst durch das militärische Eingreifen der USA-geführten NATO und ihrem diplomatischen Engagement beendet wurde.

Es klingt fast ein bisschen zynisch, wenn Kagan vom "postmodernen Paradies" spricht, von der "Gratisfahrt, welche die Europäer genießen", die ihnen der amerikanische Sicherheitsschirm in den letzten sechzig Jahren gewährt hat. Aber er trifft ins Schwarze, denn zweifellos ist dies ein Grund dafür, dass die Europäer sich weder auf eine gemeinsame sicherheitspolitische Linie in den wichtigsten Fragen durchringen können, noch ihre Pläne von einer 60.000 Mann starken EU-Streitmacht realisiert haben.

Unbequeme Analyse - für beide Seiten

Gleichzeitig bauen die USA ihre Vormachtstellung planvoll und stetig aus, besetzen den Raum, den ihnen die Europäer lassen, weil sie den USA keine eigenen Konzepte, Strategien oder gar militärische Kraft entgegensetzen. Wie ist diese Spaltung zu kitten? Zunächst einmal sollte, so Kagan, der Versuch unternommen werden, das transatlantische Spannungsverhältnis zu verstehen, beide Seiten in ihren Beweggründen zu ergründen. Um sich dann gegenseitig zu ergänzen.

Europa, so meint der Autor, muss sicherheitspolitisch Farbe bekennen und militärisch Verantwortung übernehmen. Die USA seien gut beraten, im wachsenden militärischen Engagement der Europäer keine Konkurrenz, sondern eine Gefälligkeit zu sehen, und die Chance ergreifen, Europa damit einzubinden. Recht hat er, der amerikanische Autor Robert Kagan, der in seiner Analyse für beide Seiten des Atlantiks durchaus unbequem ist. Aber genau das ist es, was Europa und die USA jetzt brauchen, eine grundlegende Diskussion über ihr künftiges Verhältnis.

Rezension: Verica Spasovska

Bibliografische Angaben:
Robert Kagan
Macht und Ohnmacht
Siedler Verlag, 2003
3886807940
16.00 Euro