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Lust auf Kunst

Florian Illies, Herausgeber des Magazins Monopol

Warum die zeitgenössische Kunst jetzt zur Leitkultur geworden ist. Ein Essay von Florian Illies

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Rebecca Raue, Echolot

Wer den ganzen Tag auf den Kunstbetrieb schaut, kann natürlich betriebsblind werden. Deshalb war zunächst Skepsis angesagt, als man glaubte, überall zeitgenössische Kunst zu sehen: in Wohnungen von Freunden, in Anzeigenkampagnen für Farbkopierer und Banken, in der Vogue und in den Tagesthemen. Aber es scheint mehr zu sein als ein kurzfristiger Trend: Die junge Kunst hat eine Strahlkraft entwickelt, in deren Sonne sich zur Zeit Modelabels wie Unternehmensberatungen zu sonnen versuchen und von deren Dynamik Städte wie Berlin, Leipzig oder Basel sehnlichst zu profitieren hoffen. Wer einen Smalltalk im Jahr 2005 bestehen will, kann einpacken, wenn er nicht wenigstens zu Jonathan Meeses Faxen, Santiago Serras Schlammorgien oder Judy Lybkes Malern eine Meinung hat.

Aber das alles ist noch eine "gefühlte" Veränderung. Interessant ist, dass sie sich mit Zahlen belegen lässt: Noch nie sind im deutschsprachigen Raum so viele Menschen auf eine Kunstmesse gegangen wie im Jahr 2004, noch nie ist auf Auktionen für Gemälde junger Maler in der Breite so viel gezahlt worden wie im Moment. Die junge Kunst ist, so schrieb Anfang Mai die New York Times in einer Analyse, der am schnellsten wachsende Bereich des Kunsthandels überhaupt. Oder, wie es das amerikanische Fachblatt Art + Auction benennt: "It’s like the 80s hype, with 10 times more collectors and prices 5 to 10 times as high."

Und es sind eben natürlich nicht die Preise (die auch wieder fallen können und werden), die den Eindruck verstärken, dass es sich hier um eine längerfristiges Phänomen handelt. Es ist die Tatsache, dass die Faszination von der zeitgenössischen Kunst am Anfang des 21. Jahrhunderts von einer viel größeren Gruppe getragen wird, als dies jemals zuvor der Fall war. Man könnte meinen, dass zum ersten Mal nicht die Kunst der Vergangenheit, sondern die Kunst der Gegenwart zum intellektuellen Mainstream geworden ist.

Natürlich hat dies auch viel mit der Generation zu tun, die inzwischen in zunehmendem Maße den Ton angibt: als Künstler vor allem, aber eben auch als Sammler und als Galeristen. Tobias Meyer von Sotheby’s führt den Boom in der zeitgenössischen Kunst vor allem darauf zurück, dass sich weltweit die Gruppe der 35- bis 45Jährigen zum Kunstsammeln entschieden habe. Und offenbar muss man sich auch um die Jugend von heute keine Sorgen machen: Der Jugend-Kulturbarometer für das Jahr 2004 kommt zu dem überraschenden (oder eben auch nicht überraschenden) Ergebnis, dass sich Jugendliche im Vergleich zu 1973 und 1983 deutlich mehr für Kunstausstellungen und Design interessieren. 52 Prozent

der in einer bundesweiten Studie befragten 2625 Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren gaben an, im vergangenen Jahr mehrfach in Ausstellungen gegangen zu sein. Musik, Theater und Literatur fallen dagegen deutlich ab.

Man kann das nun gehirnphysiologisch erklären. Denn laut neueren Forschungen ist der Raum, der im Hirn für das Speichern von visuellen Informationen eingenommen wird, in den letzten fünfzig Jahren exorbitant gestiegen. Unsere gesamte Kultur ist innerhalb der letzten Jahrzehnte immer mehr zu einer visuellen geworden. Auch, aber nicht nur, weil die Globalisierung der Bilder noch schneller voranschreitet als die der Worte, die immerhin erst übersetzt werden müssen. Eine neue Generation glaubt, dass es die zeitgenössische Kunst ist, die der Zeit momentan am besten den Puls fühlen kann. Dass die junge Kunst am besten in der Lage ist, das Jetzt zu beschreiben.

kultur21_Close-Up_05.07.2005
Bild: DW-TV