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Das deutsche Nachkriegskino

Jochen Kürten
3. August 2016

Das Locarno-Filmfestival in der Schweiz widmet dem deutschen Nachkriegsfilm eine umfassende Retrospektive. Psychologe Gerhard Bliersbach spricht mit der DW über "Opas Kino", das im Fernsehen noch lange weiterlebte.

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Filmstill aus 'Die Mörder sind unter uns' (Foto: picture-alliance/akg-images)
Erster deutscher Nachkriegsfilm: "Die Mörder sind unter uns"Bild: picture-alliance/akg-images

Deutsche Welle: In Locarno wird ja gerade eine Art Neubewertung des deutschen Nachkriegskinos gewagt. Ist "Opas Kino", von dem man Anfang der 1960er Jahre abfällig sprach, damals womöglich gar nicht so tot gewesen? Hatte es überlebt?

Gerhard Bliersbach: Ja, es hat im Fernsehen weitergelebt! Die alten Filmemacher haben den Arbeitsplatz gewechselt und Serien und Filme für das öffentlich-rechtliche Fernsehen gedreht. Insofern hat das Personal der 1950er Jahre überlebt und damit auch die Art, diese Filme zu machen. Und die Filme sind ja auch immer wieder als Quotenfänger gesendet worden, "Sissi" immer zu Weihnachten. Das Nachmittagsprogramm ist damit bestritten worden. Das ist weiterhin sehr aktuell geblieben.

Und dann ist es natürlich so eine Art von kulturellem Erbe, das man ja schlecht vergessen kann. Lange Zeit war es, kulturell gesehen, gewissermaßen die buckelige Verwandtschaft, auf die immer heruntergeschaut wurde. Aber es ist ja so: Auch eine buckelige Verwandtschaft muss man ja irgendwie beachten und sich mit ihr beschäftigen, weil sie ja da ist und eine Rolle spielt. Auch die Art des Realitätszugriffs und die Art, wie bestimmte Geschichten affektiv erzählt werden, haben sich ja doch irgendwie erhalten.

Filmplakat von 'Grün ist die Heide' (Foto: Verleih)
Legendärer Nachkriegsfilmerfolg "Grün ist die Heide"Bild: picture alliance

Das eine ist, ob man diese Filme schätzt. Das andere ist die Analyse, gerade dann, wenn man sich auch mit dem Subtext der Filme beschäftigt. Das haben sie intensiv untersucht. Was hat sie am deutschen Nachkriegskino so interessiert?

Das fing in den 1980er Jahren an, als ich zum ersten Mal "Grün ist die Heide" (Berühmter Heimatfilm aus dem Jahre 1951) gesehen habe. Den hatte ich zuvor nie gesehen, ein ganz verschriener Film. Ich dachte, als ich den Film sah, was ist das für ein Film des Klagens und des Schmerzens und des Jammerns und des Bedauerns - enorm! Ich hatte nicht gedacht, dass es so etwas gibt. Und vor allen Dingen, dass so etwas auf einmal in den als süßlich und kitschig verschrienen Filmen auftaucht. Sicherlich haben die Filme der Zeit so eine Oberfläche. Aber sie bewegen auch noch andere Subtexte.

Es wird ja oft gesagt, dass Deutsche Nachkriegskino der 1940er und 1950er Jahre habe hauptsächlich verdrängt oder sich mit anderen Dingen als der Vergangenheit beschäftigt. Stimmen Sie dem zu?

Ich finde den Vorwurf des Verdrängens falsch. Das ist ja ein Begriff, der für das Subjekt zutrifft, aber nicht für eine Gesellschaft oder für eine größere Gruppe. Unsere Vergangenheit war stets gegenwärtig; die bundesdeutsche öffentliche Diskussion ächzte buchstäblich unter dieser Last. Was sehr interessant ist: Der allererste deutsche Nachkriegsspielfilm, Wolfgang Staudtes "Die Mörder sind unter uns" (1946), hat das Nachkriegsnarrativ entworfen. Und das lautete: "Wir konnten nichts machen!“. Es ist ein Film über die vergebliche Intervention eines Leutnants, der bei seinem Hauptmann nicht damit durchkommt, eine Exekution zu verhindern. Ich war sehr verblüfft, dass dieses Narrativ schon mit dem ersten Nachkriegsfilm entworfen wurde. An diesem Narrativ hat sich ein Großteil der öffentlichen Diskussion, die sich mit der Vergangenheit beschäftigte, entlanggehangelt.

Filmstill aus 'Die Mörder sind unter uns' (Foto: defa-spektrum GmbH Chausseestraße 103 10115 Berlin)
Die Botschaft in "Die Mörder sind unter uns": Wir konnten nichts machenBild: DEFA

Das andere Narrativ ist ebenso interessant. Es kam zum ersten Mal 1963 auf mit dem "Winnetou"-Film. Da lautet die Phantasie: Wenn Du auf der Seite der Opfer bist, dann bist du kein Täter…

Also auf Seiten Winnetous und der Indianer, den Opfern …

…ja, und Old Shatterhand als ihr Retter. Das war gewissermaßen ein Wechsel der Perspektive. Und es passt zu all dem, wie damals über die nationalsozialistische Mörderorgie gesprochen wurde.

Der Begriff "Holocaust" - die Übernahme des Titels der nordamerikanischen Fernsehserie in unseren Sprachschatz - ist das Wort, mit dem man sich auf die Seite der Opfer stellt; aus unserer deutschen Perspektive können wir es nicht benutzen. Insofern haben schon diese beiden Filme die entscheidenden Narrative entworfen und erzählt, in denen wir uns auch weiterhin bewegen.

Wie hätte er denn ausgesehen, der "ideale" deutsche Nachkriegsfilm?

Wenn ich an die Kriegsfilme jener Zeit denke, dann war es das: Was fehlte, war der Versuch die Handlungsspielräume, die existierten, zu erforschen. Wenn man davon ausgeht, dass nichts möglich war, dann ist die Sache ja schnell erledigt. Ich denke, dass unsere Nachkriegsgeneration an der schnellen Entschuldung krankt. Man hat nicht genau differenziert: In welcher Situationen habe ich mich befunden? Welche Chancen hatte ich? Was hätte ich tun können? Hätte ich vielleicht etwas taktisch gehandelt oder versucht meine Angst etwas länger auszuhalten? Mein Gedanke ist: Die Handlungsspielräume wurden nicht exploriert und erkundet.

Pierre Brice in 'Winnetou' (Foto: DPA)
Auf Seiten der Guten: Auch "Winnetou" trug zur Geisteshaltung der Republik beiBild: picture-alliance/dpa

Ein Handlungsspielraum wäre ja auch der Widerstand gewesen!

Ja, aber es muss ja gar nicht so ein ausdrücklicher Widerstand sein, es ging ja auch um den alltäglichen Umgang miteinander. Interessant sind die Filme ja deshalb: Man sieht mehr oder weniger immer wieder die Szenen des Versuchs, den Handlungsspielraum des Widerstands oder des Widersetzzens zu beschreiben. Und es geht dann immer wieder schief! Das zieht sich durch vom Anfang der 1950er Jahre bis zum Ende. Auch ein Film wie "Die Brücke" von Bernhard Wicki beschreibt die Wucht der nationalsozialistischen Mörderorgie, vor der die Protagonisten in ihrer Ohnmacht einknicken und sich damit abfinden.

Hat sich das dann in den 1960er und 70er Jahren irgendwann geändert?

Nein, die Beschreibung möglicher Bewegungsspielräume folgte sehr viel später. Das letzte Beispiel für das Narrativ der Ohnmacht ist der Film von Oliver Hirschbiegel "Der Untergang". Er steht, könnte man sagen, in der Erzähltradition des Alfred Weidenmann-Films "Canaris" von 1954. "Der Untergang" zeigt den Prozess der völligen Zerstörung in einer eindimensionalen Bewegung auf den unvermeidbaren Abgrund zu. Adolf Hitler steckt in seiner Rage wie in einem Käfig. Wenn er bei der letzten Begegnung mit Albert Speer eine Träne weint und Albert Speers Verweigerung mit einer Träne quittiert, ist er das Opfer seiner destruktiven und mörderischen Politik: Rührseligkeit als Entschuldung.

Zuschauer unter freiem Himmel (Foto: Festival del film Locarno)
Locarno zeigt in diesem Jahr viel deutsches KinoBild: Festivals del Film Locarno

In Locarno wird die These "Papas Kino ist tot" durch die These "Mamas Kino lebt" ersetzt, schreibt ein Analyst. Ist diese Neubewertung denn gerechtfertigt?

Es gibt sicherlich einiges im Kino der 1950er Jahre zu entdecken. Es war sicherlich nicht alles schlecht. Aber es war vermutlich eine Art der Erzählweise, die den jungen Leuten sehr aufstieß.

Aber man kann schlecht eine ganze Periode von Filmen so abwerten, weil man ja auch zugestehen muss, dass die Filmemacher dieser Zeit das westdeutsche Grundproblem mit austrugen - nämlich sich mit ihren Arbeiten im neuem demokratischen Rahmen einzufügen, zu ihrer eigenen Anpassung und Kooperation in den nationalsozialistischen Jahren eine Position und eine einigermaßen integre Identität zu finden - und damit zu dem die 50er Jahre bestimmenden Diskurs der Transformation des alten Deutschlands in die Bundesrepublik Deutschland beizutragen.

Blick auf die Filmgeschichte - auch eine Pubertätsgeschichte

Sie sind ja Psychologe. Vor diesem Hintergrund: Muss man sich nicht auch immer grundsätzlich von den Vätern abwenden und einen harten Schnitte machen, so wie es die Regisseure des Neuen Deutschen Films Anfang der 1960er Jahre taten? Und wie es jetzt vielleicht auch die Filmkritik und -wissenschaft macht, indem sie sagt: Der Deutsche Nachkriegsfilm war doch auch gut?

Gerhard Bliersbach, Psychologe und Filmwissenschaftler (Foto: Jochen Kürten)
Zu Gast bei der Deutschen Welle: Gerhard BliersbachBild: DW/J. Kürten

Ja, ich glaube auch, dass das eine Generationengeschichte ist. Es gibt ja das berühmte Wort von dem englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott: Zur eigenen Entwicklung muss man seine Eltern sterben lassen, innerlich sterben lassen. Man muss sich von ihnen wegbewegen. Aber man kommt irgendwann wieder zu ihnen zurück. Das geht gar nicht anders. Man muss seinen Frieden mit seinen Eltern finden, sonst wird man unglücklich. Das ist natürlich eine sehr persönliche Aufgabe. Aber auch zum kulturellen Erbe - ich zähle unser Nachkriegskino dazu - sollte man mehr als eine nur ablehnende Haltung finden.

Im Nachkriegskino versammelten sich drei Generationen vor den Leinwänden der Filmtheater. Das Nachkriegskino beschäftigte unsere Eltern, Großeltern und meine Generation. Es war auch der Ort der Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der nationalsozialistischen Jahre; es war der Ort der ersten Bilder, des Trosts, der Rührung und der beschwichtigenden Umarmung. Dass dieser Ort offenbar notwendig war, sollte zumindest zu verstehen versucht werden. Die erneute Beschäftigung mit dem Nachkriegskino halte ich für ein gutes Zeichen.

Der Psychologe und Psychotherapeut Gerhard Bliersbach wurde auf dem Gebiet der Filmwissenschaft 1985 mit dem Buch "So grün war die Heide ... die gar nicht so heile Welt im Nachkriegsfilm" bekannt. Im vergangenen Jahr erschien "Nachkriegskino - eine Psychohistorie des westdeutschen Nachkriegsfilms 1946 - 1963" im Psychosozial-Verlag, ISBN 978-3- 8379-2334-6. Die Retrospektive des Filmfestivals Locarno (3.-13-8.) heißt "Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1963".

Das Gespräch führte Jochen Kürten.