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Lob der Vernunft

Rolf Wenkel19. April 2002

Gewerkschaften und Arbeitgeber der Chemischen Industrie haben sich auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Die rund 580.000 Beschäftigten der Branche bekommen 3,6 Prozent mehr Lohn und Gehalt. Rolf Wenkel kommentiert.

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Na also, es geht also auch ohne Drohgebärden, ohne Demonstrationen und ohne Warnstreiks. Unauffällig, still und diskret hat der Chef der Chemiegewerkschaft, Hubertus Schmoldt, einen Tarifabschluss bei den Arbeitgebern erreicht, der von großer Vernunft und Augenmaß zeugt - auf beiden Seiten.

Denn 3,6 Prozent treffen ziemlich genau das Idealmaß einer kosten- und konjunkturneutralen Lohnsteigerung. Darüber hinaus lässt dieser Abschluss den Betrieben der Chemischen Industrie, die ja besonders anfällig ist für das Auf und Ab der Konjunktur, noch Luft zum Atmen.

Beide Seiten haben mit diesem Kompromiss dem jeweiligen Kontrahenten die Möglichkeit gegeben, vor ihrer eigenen Klientel das Gesicht zu wahren. Die Verhandlungsführer der Arbeitgeber können mit Fug und Recht behaupten, in Wirklichkeit betrage die Lohnsteigerung nur knapp über drei Prozent. Denn die Laufzeit des Vertrages beträgt 13 und nicht zwölf Monate und ist mit einer einmaligen Zahlung von 85 Euro gekoppelt, die nicht in die Lohnsteigerung eingeht. Die Gewerkschaftsführer können ebenso mit Fug und Recht ihrer Klientel vorrechnen, wenn man alles zusammenzähle, käme man auf 3,6 Prozent. Und beide haben Recht.

Besser noch: Zugunsten der Unternehmen der Chemischen Industrie wird das Zwangskorsett des einheitlichen Flächentarifvertrages etwas gelockert. Seit Jahrzehnten monieren die Arbeitgeber, dass Flächentarifverträge zu wenig Rücksicht auf die spezifische wirtschaftliche Situation der einzelnen Betriebe nähmen. Das ist nun teilweise aufgebrochen. Denn beide Seiten haben vereinbart, das Weihnachtsgeld oder das 13. Monatsgehalt vom wirtschaftlichen Erfolg des jeweiligen Unternehmens abhängig zu machen.

Ein solcher Abschluss sollte und wird vermutlich Folgen haben für die übrige Wirtschaft. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat nicht zufällig den Verhandlungsführern umgehend Lob und Beifall gespendet. Denn ihm dürfte ein Stein vom Herzen gefallen sein.

Nichts kann ein Kanzler im Wahljahr weniger gebrauchen als einen Tarifkonflikt. Denn Warnstreiks, Streiks, Demonstrationen und Tarifabschlüsse, die das zarte Pflänzchen der aufkeimenden Konjunktur zu zertrampeln drohen, könnten auch die Siegchancen bei den Bundestagswahlen im September mindern.

Was unmittelbar die Frage aufwirft, wie sich nun die Tarifparteien in der weitaus größeren und wirtschaftlich bedeutenderen Metall- und Elektroindustrie verhalten werden. Die mächtige IG Metall ist es gewöhnt, mit dem ersten Tarifabschluss des Jahres die Marschrichtung für die übrigen Branchen vorzugeben. Und nun hat die Chemiegewerkschaft ihr schon zum zweiten Mal einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Es ist geradezu auffällig, wie schnell und einträchtig beide Seiten im Metalltarifkonflikt betonen, die Situation in der Chemiebranche sei mit ihrer überhaupt nicht vereinbar. Stattdessen wird in der Metallbranche über Urabstimmung und Streik geredet.

Es mag ja durchaus sein, dass man einen Chemieabschluss nicht unmittelbar und eins zu eins auf eine andere Branche übertragen kann. Aber trotzdem drängt sich der Verdacht auf, dass das Säbelrasseln in der Metallbranche nur einen Mangel an Vernunft und Phantasie überdecken soll.