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Das Buch 2.0

Marcus Bösch14. Oktober 2008

Man kann es in die Hand nehmen, über den Umschlag streichen, darin blättern. Das Buch 1.0 – das klassische Buch wie wir es kennen. Auf dem Bildschirm des Computers sieht das alles anders aus.

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Verschiedene Bücher übereinander gestapelt (Quelle: Picture Alliance / dpa)
Solche Bücherstapel gibt es in Zeiten des Web 2.0 nicht mehrBild: picture alliance/dpa

"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust ist mein Lieblingsbuch. Auch wenn man bei einem Werk von sieben Bänden und insgesamt weit mehr als 5000 Seiten nur noch schlecht von einem einzelnen Buch reden kann.

Alles im Internet

Ein wahnwitziges Romanprojekt über die Erinnerung. Mit unglaublichen Schachtelsätzen, den wohl detailiertesten literarischen Beschreibungen von Kirchen, Kleinigkeiten und dem gesamten zwischenmenschlichen Kosmos. Einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Viel gepriesen und fast nie komplett gelesen.

Ich versuche seit sieben Jahren immer mal wieder die "Recherche" komplett zu lesen. Bis jetzt ohne durchschlagenden Erfolg. Dafür habe ich bis jetzt in uralten Ausgaben geblättert, mich durch die besten Zitate und durch Sekundär-Informationen gewühlt. Ich habe das Hörbuch gehört und Reportagen über Proust gesehen – alles im Internet.

677.000 Treffer

Ich wollte lesen, zurückgelehnt in einem Ohrensessel. Einzig – es hat nicht funktioniert. Denn am Ende landete ich jedes Mal vor dem Computer. Dann tippe ich den Titel bei Google ein und erhalte 677.000 Treffer. Und dann fange ich an und klicke mich durch und bleibe hängen. Ich schweife ab. Denn es ist alles interessant.

Zum Beispiel das Blog-Projekt des deutschen Autoren Jochen Schmid. Schmid hat monatelang jeden Tag 20 Seiten Proust gelesen und darüber gebloggt. Über Motivationsschwierigkeiten, über die komische Vertrautheit mit dem Romanpersonal. Hier schreibt ein Verbündeter.

Schon am zweiten Tag erste Zweifel am Unternehmen. Der Anachronismus, solche Textmassen zu bewältigen läßt sich nicht wegdiskutieren. Mißtrauen, ob die wirkliche Lust am Text bei Übersetzungen überhaupt aufkommen kann. Dazu draußen 37° und man kann es sich nicht schönreden, daß man nicht wie die anderen Kinder ist und draußen spielt, statt hier zu hocken und zu lesen, was ein anderer über die Sommer seiner Kindheit schreibt. Außerdem kommt der Text schwer in Gang. Tanten und Großtanten beim Mokka-Pistazien-Eis, man weiß nicht, ob es sich lohnt, sich ihre Namen zu merken.

Nur lesen muss man selbst

Egal ob Proust-Reportagen, Zitat-Sammlungen oder Selbstvorgelesenes – im Internet findet sich für jeden Proust-Freund irgendetwas. Nur nimmt einem diese Informationsflut nicht den Job ab, das Werk selbst zu lesen. Das kann man zwar ohne Probleme online in diversen Sprachen. Nur machen, muss man es selbst.

Und jeder der mit einem echten Buch – einem Buch das man aufblättern kann, über dessen Seiten man streichen kann und zwischen dessen Blättern man die Nase versenken kann, um den ganz eigenen Buchgeruch aufzusaugen – Bekanntschaft geschlossen hat, der weiß, dass sich dieses Erlebnis nicht mit einem Computer simulieren lässt.