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Liebe geht durchs Handy

Thomas Böhm7. Mai 2004

Was wäre unser Leben ohne Dienstleister? Diese nützlichen Helfer nehmen uns immer mehr lästige Pflichtübungen ab. Da wird besorgt, geregelt und gepflegt - auch Beziehungskisten, wenn's denn sein muss.

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Neulich, auf meinem Lieblingsliteraturfernsehsender MTV, in dem herzzerreißende Liebes- und grässliche zwischenmenschliche Horrorgeschichten in drei Minuten erzählt werden, sah ich in der Werbepause, die mittlerweile passend zu den Videoclips nur noch aus Angeboten für Handyklingeltöne besteht, einen Spot für ein Gedicht. Ich glaubte zunächst, es handle sich um einen neuen Handyklingelton für Bildungsbürger, aber als sich die Werbung nach fünf Sekunden wiederholte, machte ich mir einen Reim darauf: Ich könne, so hieß es, meinem "Schatz" - ich war beeindruckt von dieser Wortwahl, die kostbare Werbezeit spart, indem sie sich nicht im Netz von Maskulinum und Femininum, von "Freund" oder "Freundin" verheddert - ein "echtes Liebesgedicht" simsen, also per Textnachricht auf das Handy schicken. Gebraucht würden nur Name des Schatzes, eigener Name und 1,99 €.

Minnesänger und Lego-Lyrik

Ich war kurz davor, ein Gedicht für Godzilla und Heidelinde zu bestellen, besann mich dann aber doch: Warum eine Kunstdienstleistung verhöhnen, nur weil sie eine neue Vertriebsform gefunden hat? Die Bestellung von Gedichten zu einem bestimmten Anlass beginnt doch bereits in der Antike, in der die von Hof zu Hof reisenden Epensänger auf memorierte Textbausteine zurückgriffen und sie je nach Anlass variierten. Lyrik fing also als Lego an, könnte man sagen. Und auch die Minnesänger des Mittelalters werden mal in das Kriemhilde-Gedicht reingeschaut haben, bevor sie für Heidelinde sangen. In der Renaissance gab es bereits Bücher mit Reden für jeden Anlass, bald darauf Reimlexika mit langen "Linde, verweht vom Winde, Herz in Rinde, und Todessünde-Listen".

Mit den stürmischen und drängenden Ideen vom echten Empfinden, von Genie und Authentizität schien zwar das vorgefertigte Gedicht auf dem Abfallhaufen der Literaturgeschichte gelandet. Doch nicht umsonst waren die kurz darauf auftretenden romantischen Dichter mit ihrer Sehnsucht nach unverdorbener Landschaft, klaren Waldbächen und Dichter-WGs die ersten Grünen. Sie ließen einen unbegrenzt recyclebaren, unendlichen Haufen von Liebesklischees zurück, der bis heute den Fundus des internationalen Schlagers beziehungsweise der Popmusik bildet.

Erleben und erfahren beim Lesen

Es gibt noch eine weitere Verbindung zwischen MTV-Gedichte-Bestellwerbeclips und der Zeit um 1800. Damals entwickelte sich das Berufsschriftstellertum. Das heißt: Autoren warteten nicht mehr ab, bis sie den Auftrag bekamen, ein Werk zu schreiben, sondern sie erkannten in der arbeitsteiligen Welt ihre Absatzchance: was die Arbeit an Erlebens-, Empfindens- und Erfahrungszeit der werktätigen Menschen beansprucht, gibt ihnen das Werk der Schriftsteller zurück. Sie erleben, erfahren und empfinden eben beim Lesen. Und die immer neuen Bücher braucht niemand zu bestellen. Hier gilt der juristische Grundsatz: Schweigen bedeutet Zustimmung.

Deshalb gibt es auch so viele Bücher, hinter denen ja die Behauptung steckt, sie gingen uns etwas an, wären wichtig, wir kämen darin vor. Was also ist der Unterschied zwischen echten Gedichten und denen der Marke: Schatzname, eigener Name, 1.99 €? Vorerst wohl nur das Genre. Aber bald werden sich auch ganze Romane für den Schatz bestellen und simsen lassen. Oder gibt's die schon längst und ich hab das nicht bemerkt? Das würde vieles, fast die ganze Bestsellerliste erklären.