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Libyens schwacher Staat

Kersten Knipp8. Mai 2014

Der neue libysche Premier Ahmed Maitik muss gewaltige Probleme lösen. Ob es ihm gelingt, ist ungewiss. Der Staat ist schwach und die Milizen stark. Viele haben kein Interesse daran, dass sich das ändert.

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Kämpfer des Tebu-Stammes, Januar 2014 (Foto: Karlos Zurutuza)
Kämpfer einer Miliz in LibyenBild: DW/K. Zurutuza

Die Wahl ins Amt war holprig: Einen Tag lang hatte der neue Premier Ahmed Maitik warten müssen, bis Parlamentspräsident Nouri Abu Sahmain am Montag (05.05.2014) die Ernennungsurkunde unterzeichnete. Am Tag zuvor hatte Parlaments-Vizepräsident Essedin al-Awami noch erklärt, der Kandidat hätte nicht die erforderliche Stimmenzahl erreicht, die Abstimmung im Parlament sei darum "null und nichtig".

Eine umkämpfte Wahl in einem umkämpften Land: Der Anlauf zur ersten Abstimmung musste unterbrochen werden, weil es vor dem Parlament zu einer Schießerei gekommen war. Mitglieder einer der zahllosen Milizen des Landes wollten auf diese Weise ihren Kandidaten durchsetzen. Ihre Macht hatten die Milizionäre zuvor wiederholt bewiesen: Maitiks Vorgänger Abdullah al-Thinni hatte drei Wochen zuvor seinen Rücktritt bekanntgegeben, weil seine Familie bedroht worden war. Und dessen Vorgänger Ali Seidan wurde im Oktober 2013 für einige Tage entführt. Er blieb zwar im Amt, stolperte im März aber über ein Misstrauensvotum.

Ein Land am Rande der Unregierbarkeit

Doch nicht nur seine persönliche Zukunft dürfte den neuen Ministerpräsidenten beschäftigen. Vor allem sind die grundlegenden Probleme des Landes weiterhin nicht gelöst - am allerwenigsten das eines notorisch schwachen Staates, der sein Gewaltmonopol nicht einmal im Ansatz durchsetzen kann, und vergeblich versucht, der zahllosen bewaffneten Gruppen, Brigaden und Verbände Herr zu werden. Die Folge sind zahllose kleine und große Zwischenfälle, die das Land nahezu unregierbar machen.

Anschlag mit Autobombe, hier in Benghazi am 17.3.2014 (Foto: Reuters)
Fast schon Alltag: Anschlag mit Autobombe in LibyenBild: Reuters

Ende April setzte die islamistische Abu-Saleem-Brigade an der Universität von Derna im Nordosten des Landes den Bau einer Mauer durch, die weibliche und männliche Studenten fortan voneinander trennen soll. Wenige Tage später töteten Anhänger der Ansar al-Sharia neun Soldaten in Bengasi. Regierungstruppen lieferten sich daraufhin heftige Gefechte mit den Terroristen. Und die sind skrupellos: 2013 töteten sie 90 Sicherheitskräfte, in diesem Jahr bislang 50. In Tripolis boten derweil Al-Kaida nahestehende Dschihadisten der Regierung an, zwei im April entführte tunesische Diplomaten sowie den ebenfalls entführten jordanischen Botschafter im Austausch gegen Mitkämpfer freizulassen. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Wird der parteilose Geschäftsmann Ahmed Maitik die Probleme des Landes lösen können? Khadeeja Shareef von der libyschen zivilgesellschaftlichen Initiative CIL in Misrata ist skeptisch. Sie erwarte keine schnellen Veränderungen, erklärt sie im Gespräch mit der DW. In der derzeitigen Situation sei das unmöglich. Allerdings, hofft sie, könnte es dem Ministerpräsidenten gelingen, einen nationalen Dialog in Gang zu setzen: "Das wäre ein großer Erfolg."

Rechtsfreie Räume

Doch dieser Dialog setzt ausgerechnet das voraus, woran es in Libyen am meisten mangelt: einen starken Staat. Längst haben sich unter die politisch motivierten Revolutionäre der ersten Stunde auch Kriminelle gemischt, die in den Wochen und Monaten des Umsturzes Privilegien gewonnen haben, von denen sie nicht mehr lassen wollen. Einige kassieren vom Staat bis heute üppige Pensionen, andere halten im Osten des Landes Öl- und Gasfelder besetzt und treten für die Unabhängigkeit der Region ein.

Milizen im Hafen von Sidra am 8.3.2014 (Foto: Reuters)
Staat im Staat: Milizen im Hafen von SidraBild: Reuters

Ihre Herrschaftsgebiete sind zu rechtsfreien Räumen geworden. Wer immer ihre Geschäfte stört, wird der Nähe zum gestürzten Gaddafi-Regime beschuldigt und in Gefangenschaft gehalten. Andere werden zur Fahndung ausgeschrieben. Um ihrer Gegner habhaft zu werden, schrecken Milizionäre nicht davor zurück, Straßensperren zu errichten und Häuser zu durchsuchen. Die Milizen, schreibt die NGO International Crisis Group (ICG) in einer Studie, führten sich als Polizisten, Richter und Gefangenenwärter auf. Rund 8000 Menschen, schätzt der britische Nahost-Spezialist Patrick Kockburn, befinden sich in ihrer Gewalt.

Bis an die Zähne bewaffnet

Es sei unmöglich, gegen diese Gruppen vorzugehen, erklärt ein ehemaliger hochrangiger Sicherheitsbeamter in einer ICG-Dokumentation. "Ich könnte gegen diese Leute keinen Haftbefehl ausstellen. Einige von ihnen sind bis an die Zähne bewaffnet. Wir wissen nicht, wie sie reagieren würden, wenn wir gegen sie vorgingen."

Mindestens sieben Richter und Staatsanwälte haben ihren Mut bereits mit dem Leben bezahlt. Weil die Verbrechen ungesühnt bleiben, breitet sich bei den Tätern das Gefühl aus, jenseits des Gesetzes zu stehen. Willkür und Gewalt nehmen zu. "Unter Gaddafi hatten wir Angst, verhaftet zu werden", umreißt ein Bürger aus Tripolis in der ICG-Dokumentation die Lage. "Jetzt fürchten wir, getötet zu werden." Immer mehr Bürger tragen sich mit dem Gedanken an Selbstjustiz. "Al-qatil yuqtalan" ist an einer Hauswand in Tripolis zu lesen: "Tod denen, die töten."

Hoffnung auf einen nationalen Dialog

Libyen befindet sich in einem Teufelskreis: Der Staat ist schwach und bekommt die Milizen nicht in den Griff. Die wachsen und wuchern wie ein Krebsgeschwür. Gewalt und Willkür nehmen zu, und die Menschen suchen Schutz - nicht beim schwachen Staat, sondern bei den Milizen, die in ihrem jeweiligen Herrschaftsbereich zumindest Ansätze von Recht und Ordnung garantieren.

Gedenkfeiern zum dritten Jahrestag der Revolution am 17.2.2014 (Foto: Esam Ezzobair)
Enttäuschte Hoffnungen: Gedenkfeiern zum dritten Jahrestag der RevolutionBild: DW/E. Ezzobbair

"Das ist eine ganz normale Situation", erklärt Khadeeja Shareef. "Die Menschen besinnen sich auf Strukturen, bei denen sie Schutz finden." Umso eher komme es darauf an, dass es dem neuen Premier gelinge, einen nationalen Dialog in Gang zu setzen. Ebenso müsse der Staat die Milizen integrieren, sie in die nationalen Sicherheitskräfte einbinden. Ministerpräsident Ahmed Maitik gehört keiner Partei an. Das macht ihn glaubwürdig, schwächt ihn aber auch. Ihm bleibt vor allem die Macht des Wortes. Sie könnte er nutzen, damit seine Landsleute daran glauben, dass es irgendwann und entgegen allem Augenschein doch noch so etwas geben könnte wie einen funktionierenden libyschen Staat.