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Lesbischer Sex: Neues von Charlotte Roche

Sarah Judith Hofmann5. Oktober 2015

Warum "Mädchen für alles" ein großartig böses Manifest sexueller weiblicher Emanzipation ist – und doch geradezu anti-feministisch funktioniert. Der Roman blickt tief in die Psyche deutscher "Rabenmütter".

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Bild: dapd

So viel schon mal vorweg: Das erste Kapitel dieses neuen Buches von Charlotte Roche ist das Beste: Wir lernen die Heldin – oder vielmehr Anti-Heldin – Christine kennen. "Chrissi" muss man korrigieren, denn so nennt sie sich in ihren endlosen Selbstgesprächen. Und auf dieser Ebene folgen wir Chrissi – in ihren Kopf, wo sie ihre herrlich bösen Gewaltphantasien auslebt. Und man kann so manches Mal laut aufschreien vor Freude über diesen schwarzen Humor, der uns Deutschen doch sonst immer so schwer fällt.

Ihr liebevoller und stets um Kind und Frau bemühter Ehemann schmeißt für seinen Bruder und dessen Braut – "die glückliche kleine Brillenschlange" – eine Hochzeitsparty. Chrissi hasst diese Nettigkeit gegenüber der Familie, ja, sie hasst eigentlich alle Menschen um sich herum. Denn sie hat PMS – das "prämenstruelle Syndrom", zu Deutsch: Sie bekommt ihre Periode. Und da sind Frauen ja bekanntlich aggressiv.

"Wenn jemand, wie die beiden Saufis hier, so ins offene Messer rennt, dann muss man auch ein bisschen zustoßen, dass es richtig reingeht. Das hab ich mal gelesen in einem Jack-Reacher-Krimi, wie schwer es eigentlich ist, selbst mit einem scharfen Messer richtig reinzukommen in den Rumpf."

Jede Menge Körperflüssigkeiten

Flash-Galerie Jahresrückblick 2011 Deutschland Kultur Charlotte Roche liest Schoßgebete
Erfolgsautorin Charlotte Roche 2011 bei der Lesung ihres Romans "Schoßgebete"Bild: picture-alliance/dpa

Zwei Skandalromane hat die ehemalige Moderatorin des deutschen Popsenders "VIVA" bereits geschrieben. "Feuchtgebiete" von 2008 handelt von einer 18-Jährigen, die wegen einer Analfissur, die sie sich während der Intimrasur zugezogen hatte, im Krankenhaus liegt. Dennoch hat sie viel Spaß dabei, sich selbst zu befriedigen – wie auch daran, sämtliche Körperflüssigkeiten zu beobachten. Von Eiter und Menstruationsblut zu Sperma und Smegma.

Der Roman wurde ein Bestseller und erfolgreich verfilmt. Ebenso wie "Schoßgebete" von 2011 – auch hier flossen wieder jede Menge Körperflüssigkeiten – diesmal allerdings hauptsächlich beim ehelichen Sex. Die vom tödlichen Unfall ihrer Brüder schwer traumatisierte Elizabeth, die - wie Roche stets zugab - stark autobiografische Züge trägt, kontrolliert sich im Alltag permanent. Einzig und allein beim Sex kann sie sich von ihren Zwängen befreien.

Lesbischer Sex als Akt der Emanzipation

Nun also "Mädchen für alles". Auch hier ist der Skandal – oder vielleicht auch der Bestseller? – schon angelegt: Denn Christine hat nicht allein Gewaltphantasien, die sie vorwiegend aus Netflix-Serien kopiert. Sie verführt auch real das Kindermädchen. Diesmal also: Lesbischer Sex.

Charlotte Roche wird in Deutschland häufig als Vertreterin eines neuen Feminismus zitiert, weil sie die Körperlichkeit von Frauen so schonungslos in ihren Romanen in den Vordergrund stellt. Zu Recht. Das muss man ihr auch bei ihrem neuen Roman lassen: Dass die Frau, die gerade Mutter geworden ist, die Babysitterin verführt und nicht – wie es das Klischee will – der Mann, ist großartig:

"Auf jeden Fall gefällt mir, Arbeitgeber zu sein! Das schlägt sich im Schritt nieder. Sie bringt neuen Wind in die Laken. Oh Gott, also echt, Chrissi, reiß dich an den Lippen, verdammt, du denkst ja schon wie ein alter geiler Sack."

Wo sind die wahren Heldinnen?

Das Problem: Was Christine auf sexueller Ebene schafft, gelingt ihr im realen Leben nicht. Warum, möchte man Chrissi anschreien, suchst du dir nicht einen Job, der dich fordert, anstatt deine Langeweile permanent mit Serien zu übertünchen? Und anstatt das Kindermädchen als Geliebte zu missbrauchen, nimm sie doch einfach als das, was sie ist: Als Angestellte, die es dir ermöglicht, andere Dinge zu tun! (Verführen könnte sie sie ja auch nach der Arbeit).

Charlotte Roche Autorin von Mädchen für alles
Sexphantasien: Titelcover ihres neusten RomansBild: Piper

Die Erwartungshaltung an Mütter, zumindest nach der Geburt erst einmal zu Hause zu bleiben, ist trotz Elternzeitgesetz in Deutschland noch so groß wie kaum sonst irgendwo in Europa. "Rabenmutter. Elstermutter. Pelikanmutter. Kuckucksmutter. Schraubenmutter. Mutterkuchen", so kreisen Christines Gedanken während sie sich weniger um ihre Tochter kümmert als ihr Mann und eigentlich keine Nähe zu dem Kind verspürt.

Nur symbolische Emanzipation

Christine ist damit eine typisch deutsche Anti-Heldin. Sie kommt aus dem Gedankenkarusell, eine Rabenmutter zu sein, nicht heraus. Außer – wie schon in "Schoßgebete" – beim Sex. So ist es zum einen nur konsequent, sie den gesamten Roman über nicht zum handelnden Subjekt werden, sondern weiter träumen zu lassen. Zum Beispiel davon, ihre Eltern umzubringen, ein symbolischer Akt der Emanzipation. Aber eben nur ein symbolischer. Christine bleibt eine zutiefst unemanzipierte Frau. Da kann sie noch so viele Kindermädchen verführen, ihr Kind vergessen, trinken und koksen. Mit Selbstbestimmung hat all das nichts zu tun.

Und so wird der Roman von Kapitel zu Kapitel ermüdender. Man würde sich im Jahr 2015 endlich einmal eine wahre Heldin wünschen. Eine wie Carrie Mathison, die Heldin der Serie "Homeland", gespielt von Claire Danes. Charlotte Roche zitiert sie in ihrem Roman, ebenso wie etliche weitere Netflix-Serien. Und klar, auch Mathison mit ihrer bipolaren Störung ist eine Art Anti-Heldin. Vor allem aber ist sie handelndes Subjekt. Sie träumt nicht davon, in Pakistan Terroristen zu jagen – sie tut es. Sie lässt ihr Kind nicht einfach so in den USA zurück, weil sie keine Bindung zu ihm verspürt (das auch), sondern weil sie tatsächlich besseres zu tun hat, als zu Hause auf dem Sofa zu sitzen.

Charlotte Roche: "Mädchen für alles". Roman. Piper. 14,99€.