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Lenins neuer Anzug

Stephan Hille, Moskau13. November 2003

Im Umgang mit der eigenen Geschichte hat jedes Land so seine Eigenarten. Die Russen haben die ihren, wie der Fall Lenin zeigt. An ihm beweisen vor allem russische Chemiker ihr Können.

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Es ist mal wieder soweit: Wladimir Iljitsch Lenin muss zur Kur. Der Körper des Chef-Bolschewiken, der nunmehr seit 79 Jahren einbalsamiert im gläsernen Sarkophag im Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz vor sich hin dämmert, muss regelmäßig, ungefähr alle anderthalb Jahre, in ein aufwendiges Chemikalienbad getaucht werden, um auch weiterhin als makaberstes Ausstellungsstück im Herzen der russischen Hauptsstadt herzuhalten. Für knapp zwei Monate bleibt daher der pyramidenartige Mausoleumstempel geschlossen. Erst kurz vor Silvester soll der sakrale Bau wieder seine Türen öffnen, dann erst wird Lenin wieder Besuch empfangen.

Was die Herren Wissenschaftler vom Mausoleumslabor in der langen Zwischenzeit mit dem mumifizierten Leichnam alles anstellen, welche Säuren sie ihm angedeihen, und warum die Prozedur fast zwei Monate dauert, ist natürlich streng geheim. Schließlich stemmt sich eine ganze Armada von Biochemikern und Anatomieprofessoren seit Jahrzehnten gegen die Naturgesetze, um das zu erhalten was eigentlich längst nicht mehr zusammen halten dürfte.

Stilbruch

Bekannt wurde nur, dass Wladimir Iljitsch einen neuen Anzug erhalten soll. Es wird sein zehnter in seinem bald achtzigjährigen Aufenthalt im wohltemperierten Glaskasten sein. Kein Wunder, denn der Chemiecocktail zur Erhaltung der körperlichen Überreste des Verblichenen hält auf lange Sicht der beste Stoff nicht aus. Ursprünglich wurde der Revolutionär nach seinem Ableben in einer Uniform konserviert, doch später wurde entschieden, dass dem Genossen Lenin ein ziviles Tuch besser stünde. Weitere Stilbrüche wurden seitdem nicht vorgenommen, und so dürften auch für Lenins zehntes Kostüm keine spektakulären modischen Veränderungen im Anzug sein.

Wenn man jedoch berücksichtigt, dass der Leichnam Lenins trotz der regelmäßigen und aufwendigen Rundumerneuerung kaum anders aussieht als der Herr Lenin im Londoner Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds, darf sich man sich natürlich fragen, warum die ganze Anstrengung?

Missachtung des letzten Willen

Zwar wurde die Frage, ob man die Überreste des "Führers des Weltproletariates und Begründers des ersten Arbeiter- und Bauernstaates der Welt" nicht ordentlich bestatten sollte, so wie es Lenin vor seinem Tod ausdrücklich gewünscht hatte, immer mal wieder diskutiert, doch ernsthaft hat sich keiner der beiden post-sowjetischen Präsidenten Jelzin und Putin dieser Frage angenommen. Ein "heißes Eisen", das man besser kühl im Mausoleum lagert, mag man noch immer im Kreml denken. Und schließlich haben es die Russen mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte, die von eben diesem Lenin angestoßen wurde, ohnehin nicht eilig.

Vielleicht ist es auch der wissenschaftliche Ehrgeiz, der die Russen zur weiteren Konservierung des Leichnams anhält. Jurij Dennisow-Nikolskij, Professor am Wissenschaftlichen Institut für Arznei- und Aromapflanzen, versicherte jedenfalls, dass sich Lenins Leiche in perfektem Zustand befinde und bei richtiger Behandlung mindestens weitere hundert Jahre im Mausoleum verwahrt werden könne.