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Lautpoet und Maulheld

Christine Gruler20. Januar 2003

Egal in welcher Sprache - das gewöhnliche Wort ist ihm nicht genug: Der russische Lautdichter Valeri Scherstjanoi hat eine Vorliebe für Buchstaben, Phoneme und ihre visuelle Umsetzung.

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"Maulheld" Valeri Scherstjanoi bei der ArbeitBild: Maulhelden

"Weit weg von Sibirien - nah am Schwarzen Meer, in einem imaginären Lautland" erblickte er das Licht der Welt, wie Valeri Scherstjanoi es selbst formuliert. Der 53-jährige gehört einer seltenen Spezies an - der Gemeinschaft der Lautpoeten. Sie ist klein, agiert aber dafür auf internationalem Parkett. Von Aalborg bis Quebec ist Scherstjanoi unterwegs. In Russland kaum bekannt, vertritt er sein Land nun beim zweiten Internationalen Festival der Wortkunst in Berlin.

Eine ehrenvolle Aufgabe, denn Berlin ist nicht nur die Wahlheimat des Lautpoeten Scherstjanoi, sondern auch Wiege der akustischen Literatur in Deutschland. Man denke an den Berliner DADA - allen voran Raoul Hausmann, der als Erfinder des Lautgedichts in die Literaturgeschichte einging.

Schnupfen, Niesen und Husten

Doch was Scherstjanoi unter dem futuristischen Dach des neuen Tempodrom aufführen wird, wurzelt hörbar in der Kultur seiner Heimat: Die Kombination von diversen, nur dem russischen Ohr vertrauten Konsonanten und Vokalen schnupfen, niesen und husten durch den Raum. Ein Klangerlebnis ganz eigener Art.

Auf die russische Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts, auf Formalisten und Futuristen, beruft sich der umtriebige Lautpoet. Seine Vorbilder hatten die Sprache zum Experimentierfeld gemacht. In Performances, Vorträgen und Veröffentlichungen würdigt er sie vielfach.

Sprachexperimente unter "operativer Kontrolle"

Die Freiheit für eigene Experimente fand Scherstjanoi einst erst fern der Heimat, in Ost-Berlin. Als er 1979 in die Hauptstadt der damaligen DDR umsiedelte, war er bereits zehn Jahre mit Lautgedichten durch den russischen Untergrund getingelt.

Die Bekanntschaft mit dem experimentellen Künstler Carlfriedrich Claus (1930-1998) wurde zu einem Schlüsselerlebnis: "In seinen poetischen Experimenten ging er in einen Bereich des Unbewussten über - von einem Sprachlaut bis zu Naturlauten und Geräuschen - und ließ die Sprache links liegen", sagt Scherstjanoi über seinen Lehrer.

Während Claus von der Staatssicherheit der DDR unter dem Decknamen "Eremit" geführt wurde, erhielt Scherstjanois Stasi-Akte den Vermerk: "Operative Kontrolle der Futuristen-Person". Claus und Scherstjanoi war jedoch vor allem eines gemeinsam: Sie entdeckten die Liaison von Visuellem und Lautlichem für sich.

"Ars scribendi", mehr Malen als Schreiben

Buchstabengrafik, Text von Valeri Scherstjanoi, russischer Lautpoet
"Ars scribendi"Bild: Valeri Scherstjanoi

Scherstjanois Leidenschaft ging schließlich so weit, dass er für seine Lautgedichte eigene Zeichensysteme entwickelte, die so genannten Scribentismen. Seine Ende der 80er-Jahre veröffentlichte Theorie "Ars scribendi - poesia sonara" basiert auf der Idee, jeden einzelnen Buchstaben seiner eigenen Schrift vom Kontext anderer Zeichen zu befreien: "So begannen sich meine Buchstaben zu verändern. Ich schrieb nicht mehr, sondern malte - und nicht von links nach rechts, sondern umgekehrt. Scribentische Zeichen sind sehr mobil und werden häufig als Bilder wahrgenommen."

Zwischen Musik und Deklamation

Etwa 500 solcher "Scribentismen" gibt es. Damit drückt Valeri Scherstjanoi aus, was andere Lautpoeten nur akustisch vermitteln können: Zu jedem Zeichen gehört ein Rhythmus, eine Lautverbindung, ein Geräusch und eine Intonation. "Diese Poesie kann als ein Musikwerk wahrgenommen werden. Ihr Nährboden bleibt allerdings die Sprache", erläutert Scherstjanoi seine Philosophie. Und so reiht er sich dann ein in die Oberliga der Maulhelden, die von Freitag (17.1.2003) an, Berlin erheitern wird.