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Trotzdem Landarzt werden

23. September 2011

Obwohl es immer mehr Mediziner gibt, fehlen auf dem Land in Deutschland die Hausärzte. Die Bundesregierung will jetzt mit finanziellen Anreizen gegensteuern. Aber das ist nur ein kleiner Teil des Problems.

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Der Landarzt Sebastian Dannehl auf dem Weg zu einem Patienten (Foto: DW)
Der Landarzt Sebastian Dannehl auf dem Weg zu einem PatientenBild: DW/Kiesel

Sebastian Dannehl packt seine Arzttasche in den Fond seines silbernen Kleinwagens, setzt sich ans Steuer und startet den Motor. Der 39-Jährige mit den stoppelkurzen blonden Haaren hat sich vor gut neun Monaten in Fürstenberg an der Havel, einem kleinen Städtchen in Brandenburg, niedergelassen. Er ist gerade unterwegs zu einem Hausbesuch. "Ich muss ins Nachbardorf zu einem alten Mann, dem schwindelig ist", erklärt er. Er macht damit genau das, wovor vielen seiner Berufskollegen graut.

Sebastian Dannehl (Foto: DW)
Sebastian DannehlBild: DW/Kiesel

Es gibt in Deutschland zwei weit verbreitete Versionen über den Beruf des Landarztes. Eine läuft im Fernsehen, als Schnulze vom einfühlsamen, aufopfernden Arzt, der sich in einer Postkartenidylle um die seelischen und körperlichen Leiden seiner Patienten kümmert und dabei auch sein eigenes Glück findet. Die andere findet sich auf den Arbeitspapieren und in Analysen besorgter Gesundheitspolitiker und Fachvertreter: Ein wenig lukrativer, zeitintensiver Beruf, den bald niemand mehr ausüben will. 550 Praxen stehen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bereits leer, in den nächsten zehn Jahren sollen weitere 7000 wegfallen, weil die alten Ärzte keine Nachfolger finden.

Wählerische Ärzteschaft

Auch Dannehl weiß, dass sein Beruf wenig mit schnulziger TV-Romantik zu tun hat. Ein Grund dafür sind die besonderen Strukturen auf dem Land. "An Hausbesuchen führt kein Weg vorbei", erklärt Dannehl, während sein Wagen über grobes Kopfsteinpflaster rumpelt. "Die Leute auf dem Land werden immer älter und hilfsbedürftiger." Die Bevölkerungsstruktur macht ihm zu schaffen: Da sind die Alten, die Sozialhilfeempfänger und die paar Jungen, die morgens um fünf Uhr mit dem Zug nach Berlin zur Arbeit fahren und abends wieder heimkommen. Ein Arzt in einem strukturschwachen Gebiet hat weniger Chancen, die gewinnbringenden Privatversicherten in seiner Patientenkartei zu finden. Stattdessen muss er weit fahren, um seine Kassenpatienten zu sehen. Dannehl zuckt mit den Schultern, er will nicht jammern. "Ich liebe die Natur", sagt er nur.

Ein Schild weist an einer Straße in Moos (Niederbayern) auf den Weg zum nächstgelegenen Arzt hin (Foto: dpa)
Ein Schild weist an einer Straße in Moos (Niederbayern) auf den Weg zum nächstgelegenen Arzt hinBild: picture-alliance/dpa

Eigentlich gibt es laut Statistik genug Ärzte in Deutschland. Rein rechnerisch erhöhte sich die Arztdichte pro 10.000 Einwohner in den letzten 20 Jahren von 30 auf 38. "Aber", so gibt Udo Wolter, Präsident der Landesärztekammer Brandenburg zu bedenken, "die Ausbildung zum Allgemeinmediziner ist in den letzten Jahren vernachlässigt worden und die jungen Mediziner bleiben in den Städten, in denen sie studieren, hängen." Gesundheitspolitiker sprechen von einem "Klebe-Effekt". Wolter freut sich, dass die Bundesregierung mit einem Versorgungsstrukturgesetz die Bedingungen für Landärzte verbessern will, aber er habe in der Vergangenheit auch beobachtet, dass ähnlich ausgerichtete Hilfsprogramme nicht wirklich geholfen hätten. "Am Geld allein liegt es nicht", konstatiert der Ärztefunktionär.

Heimatgefühl und soziale Kontrolle

Warum wird man heute noch Hausarzt auf dem Land? Sebastian Dannehl sinniert auf der von Kiefern umsäumten Landstraße über seine Berufswahl. Er habe lange genug in Städten gelebt, erzählt er. Nach seinem Medizinstudium hat er in England gearbeitet, erst in Kliniken und dann als Vertretungsarzt in Hausarztpraxen. Dann wollte er nach Australien gehen. Sein Vater überzeugte ihn, es zusammen mit ihm in seiner allgemeinmedizinischen Praxis in Fürstenberg zu probieren. Dannehl zögerte eine Weile, dann sagte er zu. "Das ist ein Experiment, aber bisher klappt es ganz gut." Und es sei schön, irgendwo angekommen zu sein.

Eine Praxis, in die man sich nicht voll einkaufen muss, und ein positives Heimatgefühl - selbst bei ähnlich guten Voraussetzungen meiden junge Mediziner oft die Rückkehr in den ländlichen Raum. Landleben, das müsse man schon mögen. "Viele scheuen vielleicht diese Nähe, diese Vertrautheit", vermutet der Allgemeinmediziner. "Die Leute kennen einen hier, sprechen dich auf der Straße an - in die Anonymität kann ich hier nicht abtauchen wie in der Stadt." Und dann noch das Kultur- und Bildungsangebot, das nie mithalten wird mit dem einer Stadt. Dannehl ist ledig, hätte er eine Partnerin, dann müsste auch sie es auf dem Land gut finden. Er schaut durch die Windschutzscheibe auf die flachen und einfachen Häuser seines Zielorts. Ein eingerissenes Plakat preist eine AC/DC-Coverband an.

Idealismus und wenig Geld

Die zweite Straße rechts. Ein geklinkertes Einfamilienhaus. Hier wohnt der Patient. Sebastian Dannehl war hier in den letzten Tagen schon mehrmals. Er ist beunruhigt. Heute ist der Patient nicht ans Telefon gegangen. Auch auf das Klingeln reagiert jetzt niemand. Der Arzt öffnet die braune Holztür trotzdem und läuft mit Hallo-Rufen durch Gang und Wohnzimmer. In der Stadt hätte er wahrscheinlich Hausmeister, Schlüsseldienst oder die Feuerwehr rufen müssen. Hier stehen die Türen offen. Ein alter Mann liegt im Schlafzimmer auf dem Bett und grüßt mit einer fahrigen Handbewegung. "Ich habe solche Schwindelgefühle und Kopfschmerzen, ich sehe alles doppelt", flüstert er. Dannehl fühlt den Puls. Schaut noch einmal auf seine Krankenakte. Er kann nicht viel tun, aber er möchte den Kranken auch nicht einfach so zurücklassen. Der Patient soll zur Beobachtung ins Krankenhaus. Der Arzt telefoniert mit dem Krankenhaus, füllt ein paar Formulare aus und dann geht er wieder zum Auto.

Kurz darauf sitzt Sebastian Dannehl wieder in seinem Sprechzimmer in Fürstenberg und füllt eine Eingabemaske seines Abrechnungsprogramms aus. Sie teilt ihm unmissverständlich mit, dass er in der vergangenen knappen Stunde gerade einmal 21,03 Euro Honorar verdient hat und 15 Euro für Fahrtkosten erstattet bekommt. "Hier wird man nicht reich als Allgemeinmediziner", sagt er. "Aber was macht einen glücklich? Das ist eine saubere Umwelt, soziale Kontakte und Anerkennung. Geld? Naja, ein bisschen." Hier wird er gebraucht, das spürt der Landarzt, aber bei allem Idealismus - Dannehl ist nicht realitätsfern: In drei Jahren will er sich hinsetzen und kritisch prüfen, ob sich die Praxis auf dem Land wirklich lohnt.

Autor: Heiner Kiesel
Redaktion: Dеnnis Stutе