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Eine Jahrhundertfigur

13. Februar 2009

Für ihren neuen Roman "Daniel Stein" hat Ludmilla Ulitzkaja einen Helden mit vielen Rollen gefunden. Einen Helden, der das ganze 20. Jahrhundert spiegelt.

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Buchcover

Daniel Stein, die Zentralgestalt in Ljudmila Ulitzkajas neuem Roman, ist in den biografischen Eckdaten einem realen Menschen nachgebildet, der die erstaunlichsten Metamorphosen durchmachte, die im 20. Jahrhundert eigentlich gar nicht vorgesehen waren, und dennoch seine Authentizität bewahrte: Pater Daniel Rufeisen, einem polnischen Juden, der im Holocaust, getarnt als Volksdeutscher, der Gestapo als Dolmetscher diente, vielen Juden die Flucht aus dem Ghetto ermöglichte, später als Partisan in den weißrussischen Wäldern untertauchte und für das NKWD arbeitete. Versteckt in einem Nonnenkloster, konvertierte Rufeisen zum Christentum, wurde zum Priester geweiht, emigrierte als Karmelitermönch nach Israel und gründete n der Nähe von Haifa eine jüdisch-katholische Kirchengemeinde, nach urchristlichem Vorbild. Vor zehn Jahren kam er bei einem ungeklärten Autounfall ums Leben.

Modell einer Weltgemeinde im Kleinen

Ulitzkaja mischt in der Figur ihres Helden Daniel Stein die dokumentarischem Details aus Rufeisens Biografie mit fiktiven Elementen und fügt realen Gestalten, die sie interviewt hat, eine Überfülle an biografisch verfremdeten wie auch erfundenen Figuren hinzu – mit dem Ziel, das Modell einer überkonfessionellen, multinationalen, toleranten, vom Geist tätiger Nächstenliebe erfüllten Weltgemeinde im Kleinen zu entwerfen.

In Daniel Steins von der jüdischen wie von der römisch-katholischen Obrigkeit misstrauisch beäugter Gemeinde werden Irrläufer, Gestrandete, Abweichler, Gottsucher liebevoll aufgenommen, die in keine konfessionelle Schublade passen. Als Seelsorger und Sozialarbeiter integriert Pater Daniel allen Anfeindungen zum Trotz – allein kraft seines Charismas – ganz heterogene Menschen aus aller Welt in seiner Gemeinde, motiviert durch sein singuläres Schicksal. Dreimal, so Daniel, sei er dem Tod entronnen, und Gott habe ihm das Leben geschenkt, damit er es anderen schenke, in allem Respekt vor der Vielfalt christlicher Bekenntnisse. Daniels Gemeinde-Experiment besteht allerdings nur durch ihn und zerfällt nach seinem Tod.

Israel als Basar der Konfessionen

Porträtfoto
Literaturkritikerin Sigrid LöfflerBild: gezett.de

Der Roman ist angelegt als eine ausufernde Collage von Dokumenten, Briefen, Tagebüchern, Gesprächsprotokollen und führt zudem riesige Mengen an religionshistorischen Materialien mit sich – von der apostolischen Urgemeinde des Jakobus (Daniels und Ulitzkajas Ideal) bis zu sämtlichen Kirchenspaltungen. Israel wird gezeichnet als ein Basar unterschiedlichster, aber untereinander zerstrittener und verfeindeter Glaubensrichtungen. In ihrem Ehrgeiz, eine Totalansicht vom Crossover der Konfessionen in Israel zu entwerfen, verknüpft die Autorin unzählige Schicksale und bizarre religiöse Biografien, die für ein Dutzend Romane ausreichen würden, diesen einen aber gefährlich überlasten.