1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kann Anerkennen Sünde sein?

Volker Wagener25. Juni 2016

1991: Jugoslawien zerfällt und Deutschland ist gerade ein Jahr lang wiedervereinigt. Da wagt die Bundesregierung einen außenpolitischen Alleingang und erkennt die Balkanstaaten Slowenien und Kroatien an. Ein Sündenfall?

https://p.dw.com/p/1JCFR
Serbische Miliz-Soldaten in Kroatien (24.11.2016) - Foto: Spiros Mantzarlis (AP)
Bild: picture-alliance/AP Photo/S. Mantzarlis

Als die EU noch EG, also Europäische Gemeinschaft hieß, nur zwölf Mitgliedsstaaten umfasste und alle noch ihre eigenen Währungen hatten, erlebte Europa seinen ersten außenpolitischen Ernstfall nach 1945. Es war 1991 und es ging um Jugoslawien, das nach Jahren des inneren Streits und wirtschaftlichen Niedergangs implodierte. Slowenien und Kroatien wollten raus aus Titos Balkanstaat, eigenständig werden. Sollte Europa das gut finden?

In Bonn, damals noch der Sitz der deutschen Bundesregierung, wurde das Ansinnen wohlwollend registriert. Das Recht auf Selbstbestimmung der Völker war unumstritten - in Bonn wie innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Zumindest theoretisch. Hatten die Europäer nicht gerade die drei baltischen Staaten im Sommer 1991 freudig unterstützt, bei ihrem Austritt aus der UdSSR? Doch im Falle Jugoslawiens tüftelte die EG lieber an Restaurationsplänen. Dabei hatte vor allem in Kroatien der Krieg längst Fakten geschaffen. Vor allem in Bonn nahm man schnell Abstand von der Idee, den Vielvölkerstaat Jugoslawien um jeden Preis zusammenhalten zu wollen.

Deutschland gegen den Rest der Welt?

Früh verfolgte der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Absicht, Slowenen und Kroaten nicht gegen ihren Willen zum Verbleib in der sozialistischen Föderation zu zwingen. Damals eine politisch hoch brisante Einzelmeinung. Deutsche Außenpolitik war bis dahin geprägt von historisch bedingter Zurückhaltung. Ausgerechnet im Fall des "balkanesischen Patienten" schlug Genscher einen Kurs gegen die Mehrheit in der EG ein.

Referendum am 19. Mai 1991: Frau in einem Wahllokal - Foto: dpa
Referendum am 19. Mai 1991: 94 Prozent für die Unabhängigkeit KroatiensBild: picture-alliance/dpa

Auch psychologisch war das riskant. Hatten sich doch Deutsche gleich zweimal in der Geschichte - im Ersten und im Zweiten Weltkrieg - unrühmlich auf dem Balkan hervorgetan. Die wichtigsten Partner Deutschlands - Frankreich, Großbritannien und die USA - waren gegen eine Anerkennung. Sogar UN-Generalsekretär Javier Pérez de Cuéllar warnte vor einem deutschen Alleingang.

Dabei hatte Deutschland nur als erstes Land laut ausgesprochen, was im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1991 auch in der EG langsam Mehrheitsmeinung wurde. Während serbische Freischärler rund ein Drittel Kroatiens besetzt hielten, wurde die außenpolitische Zahnlosigkeit der Europäer offenkundig. Unzählige Waffenstillstände wurden gebrochen, die Brüsseler Diplomatie vorgeführt. Frustriert über ihre Hilflosigkeit reifte der Plan, Slowenien und Kroatien nun doch anzuerkennen, wenn auch nach einem abgestimmten Stufenplan. Inzwischen hatte die EG keine Probleme mehr, die Schuldfrage an dem Krieg klar zu beantworten. Als Aggressoren identifizierten sie serbische Freiwilligenverbände, die mit Rückendeckung aus Belgrad operierten.

Unter dem Eindruck der slawonischen Ereignisse

Bereits am 27. August verurteilten die EG-Außenminister die Angriffe serbischer Tschetniks in Kroatien. Und: Serbien wurden Konsequenzen angedroht, falls der Waffenstillstand gebrochen und die geplanten Friedensgespräche in Den Haag hintertrieben würden. Als eben auch diese Haager Konferenz scheiterte, reifte nun auch in London und Paris der Gedanke an eine Anerkennung.

Slowenien Soldaten mit erbeutetem jugoslawischem Panzer (29.06.1991) - Foto: P. Northall (picture-alliance)
Slowenische Soldaten mit erbeutetem jugoslawischen Panzer (29.06.1991): Deutschland Schuld am Krieg?Bild: picture-alliance/Bildarchiv/P. Northall

Selbst Hans van den Broek korrigierte seinen Kurs. Der niederländische Außenminister und damalige EG-Ministerratsvorsitzende hatte zusammen mit seinen britischen und französischen Amtskollegen am längsten auf der Anerkennungsbremse gestanden. Anfang Oktober kündigte er nach einem Treffen sowohl mit dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic als auch mit Kroatiens Präsident Franjo Tudjman an, in ein oder zwei Monaten über die Anerkennung seitens der EG entscheiden zu wollen. Noch deutlicher wurde van den Broek wenig später, als er den 10. Dezember als Stichtag nannte, zu dem die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens beschlossene Sache sei, falls keine politische Lösung bis dahin erreicht werde.

Badinter-Kommission als Grundlage der Anerkennung

Dennoch: Trotz merklicher Veränderungen in der Bewertung der jugoslawischen Geschehnisse innerhalb der EU blieb der Vorwurf eines deutschen Alleingangs ein mediales und psychologisches Reizthema. Gerade von britischer und französischer Seite hagelte es Kritik, darin klang implizit der Vorwurf an die Regierung Kohl-Genscher mit, sie sei mit ihrem "übereilten Alleingang" verantwortlich für die Zerstörung Jugoslawiens, ja sogar für die Kriege im zerfallenen Jugoslawien.

Selbst in Deutschland polarisierte die Genscher-Politik. Günter Grass beklagte wortreich die voreilige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. SPD-Linke sympathisierten offen mit einer "Rettung Jugoslawiens". Doch längst hatte die EG ein Instrument ins Leben gerufen, um Voraussetzungen für eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens zu schaffen: Die Badinter-Kommission unter Leitung des französischen Verfassungsrichters Robert Badinter.

Kroatien Vukovar Friedhof Flash-Galerie (Foto: dpa COLORplus)
Trauer in Vukovar: 87 Tage wurde die Stadt von serbischen Truppen beschossenBild: picture-alliance/dpa

Deutschland blieb in diesem Gremium im Hintergrund, hatte aber ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt: die Minderheitenfrage. Ziel der Bundesregierung war es, Kroatien dazu zu verpflichten, die Rechte von anderen Volksgruppen im Land zu achten, also auch der Serben. Ein eigenes Gutachten des Bonner Auswärtigen Amtes bescheinigte Anfang Dezember der Zagreber Regierung, der Minderheitenschutz gehe sogar über die Europäische Menschrechtskonvention hinaus. Es war die deutsche Regierung, die die Verknüpfung von der Anerkennungs- mit der Minderheitenschutzfrage ausdrücklich wollte. Auch hier keine Spur von Eile oder eigenmächtigem Vorpreschen.

Gemeinsam, nicht im Alleingang

Erst als Anfang November auch der letzte Befriedungsplan des britischen Unterhändlers Lord Peter Carrington von Serbien abgelehnt worden war, erinnerte Bundesaußenminister Genscher daran, dass man sich seitens der EG maximal zwei Monate Zeit gegeben habe, um die Anerkennungsfrage so oder so zu beantworten. Es war der britische Außenminister Douglas Hurd, der am 17. Dezember 1991 Genscher in einer Brüsseler Sitzung zur Seite sprang und deutlich machte, dass nun der Zeitpunkt für die EG gekommen sei, Farbe zu bekennen. Und so kam es. Die EG entschied gemeinsam und einstimmig.

Zwei Tage später beschloss die Bundesregierung die Anerkennung, die aber erst für den 15. Januar gelten sollte. Entschieden haben aber die EG-Mitglieder gemeinsam. Eigentlich zu spät und nicht zu früh, wie manche meinen. Denn die Anerkennung hatte mitnichten die Gewalteskalation in Slowenien und Kroatien befeuert. Die gesamte serbische Offensive hatte sich schon im Sommer und Herbst gegen Kroatien gerichtet. Dubrovnik war seit Oktober umzingelt, Vukovars Schicksal war am 18. November besiegelt. "Die Anerkennung von Slowenien und Kroatien brachte Slobodan Milosevic dazu", resümierte Genscher nachträglich, "den Krieg gegen diese beiden Staaten zu beenden. Ist das nichts?"