1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kritische Anonymität oder gesellschaftliches Abseits

17. April 2003

- Zur Situation HIV-Positiver in Ungarn

https://p.dw.com/p/3VBO

Budapest, 17.4.2003, PESTER LLOYD, Nathalie Olivier, deutsch

Während in Deutschland und anderen westeuropäischen Staaten das Thema AIDS mehr und mehr aus der Grauzone verschwindet und an Akzeptanz gewinnt, stoßen HIV-Infizierte und AIDS-Erkrankte hierzulande auf viele soziale Probleme. PESTER LLOYD sprach mit dem Präsidenten von PLUSS, der ungarischen Selbsthilfe-Organisation HIV-Positiver Menschen, dessen Name aufgrund der kritischen Situation der Betroffenen an dieser Stelle nicht genannt werden darf.

Infiziert man sich mit dem Virus, folgen für einige Wochen grippeähnliche Symptome. Danach kommt lange Zeit gar nichts – es kann Jahre dauern, bis die Krankheit ausbricht, manchmal über zehn. Ein Virus, mit dem man leben kann, nur wie lange, das weiß keiner. 1985 wurde in Ungarn der erste HIV-Fall diagnostiziert, 1986 erstmals AIDS und wiederum ein Jahr später erlag das erste Opfer der Immunschwäche.

Heute sind landesweit knapp 1.000 Personen mit dem Virus infiziert, und ihre Situation scheint auf den ersten Blick nicht die allerschlechteste zu sein: Die Zahl der Erkrankten ist im Vergleich zu anderen europäischen Staaten gering und auch die medizinische Versorgung ist auf höchstem Standard. Modernste Medikationen stehen bereit, sämtliche Therapien werden eingesetzt.

Gesellschaftliche Akzeptanz gen Null

Erschreckend ist dagegen die gesellschaftliche Akzeptanz bzw. eben das Fehlen dieser. Ein großes Schweigen, eine noch größere Unwissenheit, wahrscheinlich eine noch größere Angst vor etwas, von dem jeder schon mal gehört hat, aber nichts genaues weiß und weshalb man mit der ganzen Angelegenheit lieber nichts zu tun haben möchte. Auf Kosten der Betroffenen, die viel dafür geben würden, wenn es nicht auch sie erwischt hätte.

"Die Gesellschaft in Ungarn ist für dieses Thema nicht empfänglich", sagt der Präsident, der selbst seit zehn Jahren mit dem Virus infiziert ist. Seine Familie weiß darüber nicht Bescheid und auch nur wenige seiner Freunde sind in sein Geheimnis eingeweiht. Er lebt zwei Leben, eines als selbst Betroffener und Präsident der Vereinigung, eines, das des öffentlichen Lebens, in dem er eine andere Rolle spielt, in dem keiner etwas über seine Krankheit weiß und er seinem täglichen Beruf nachgeht.

"Es ist problematisch, die Leute wissen nichts über HIV, haben keine Ahnung über die Infizierung und AIDS. Oft bekommen Betroffene Nachteile und verlieren ihre Arbeit und gesellschaftliche Position, wenn sie sich der Wahrheit auch in der Öffentlichkeit stellen. In Deutschland ist die Akzeptanz dagegen viel höher. Diese andere Seite gibt es auch bei uns, aber eben leider nur sehr selten. Deshalb ist man vorsichtig." Eine verständliche Vorsicht, aber eine kritische Anonymität.

Es gibt nur wenige Anlaufstellen für HIV-Positive und AIDS-Kranke in Ungarn, eine davon ist im Szent László Krankenhaus in Budapest: 60 Prozent aller HIV-Infizierten des Landes suchen diese als ambulante Patienten auf und auch eine stationäre Behandlung ist hier möglich. Es ist das einzige Krankenhaus, das in Ungarn über AIDS-Spezialisten verfügt. Für weitere Einrichtungen dieser Art reicht Makabererweise die Anzahl der Infizierten nicht aus.

Öffentliches Schweigen – Interne Kommunikation

PLUSS ist die einzige Organisation, die sich mit HIV-Patienten beschäftigt. Sämtliche Mitglieder sind vom Virus betroffen. Die Stiftung finanziert sich größtenteils aus Spenden und anderen Zuwendungen, denn das neue AIDS-Komitee brachte bislang noch keine finanzielle Perspektive in die Diskussion – aber die Hoffnung darauf besteht.

Wichtig ist aber nicht nur der finanzielle Aspekt, sondern besonders der der Kommunikation: Man muss ein Forum haben, auf dem über Probleme gesprochen, Erfahrungen ausgetauscht und gesundheitliche Fragen thematisiert werden. Ein Grund dafür, dass PLUSS regelmäßig Treffen und andere Veranstaltungen organisiert.

Die Zahl der Betroffenen ist zwar – noch – verhältnismäßig gering, aber die Gefahr AIDS nimmt zu. Bei rund 10 Mio. Einwohnern und einer Landesfläche von über 90.000 qkm sind die zwei bis drei Servicestellen des Landes nicht gerade viel.

Hier sollte sich der Staat die Fragen stellen, ob solche Einrichtungen nicht auch als Informationspunkte wertvoll wären und zur Prävention der Immunschwäche beitragen würden. Die Grenzen öffnen, Menschen aller Länder vermischen sich. Auch deren Krankheiten. Der Transitverkehr steigt ebenso wie der Drogenkonsum – und im gleichem Maß steigt die Gefahr von AIDS. Und mit der Ukraine als Nachbar ist ein Land, in dem die Situation in Bezug auf AIDS geradezu dramatisch ist, nicht weit. (fp)