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Konturlose Präsidentschaft

Bernd Riegert, Brüssel28. Dezember 2004

Zum 1. Januar 2005 übergeben die Niederlande die EU-Ratspräsidentschaft an Luxemburg. Brüssel-Korrespondent Bernd Riegert nimmt den Vorsitz der Niederländer unter die Lupe und zieht Bilanz.

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Kein Zaubermeister: Balkenende, genannt "Harry Potter"Bild: dpa

Der Höhepunkt der niederländischen Präsidentschaft in der Europäischen Union kam ganz zum Schluss: Nach zweitägigem Pokern um die Zypern-Frage fand Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende eine Kompromiss-Formel für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Zuvor hatte der Christdemokrat den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan herausgefordert, indem er von ihm die De-facto-Anerkennung Zyperns verlangte. Erdogan und Balkenende stritten sich lautstark. Gefühlsausbrüche, die man bei dem stets bedächtig wirkenden Niederländer, der wegen seinen braven Frisur und seiner runden Brillengläser von seinen Landsleuten "Harry Potter" gerufen wird, gar nicht erwartet hätte. Wenn etwas von der niederländischen Präsidentschaft in die Annalen der EU eingehen wird, dann ist es dieser historische Gipfelbeschluss zur Türkei.

Zurückhaltung bei Finanzdebatte

Ansonsten verlief die Präsidentschaft der in europäischen Angelegenheiten erfahrenen Niederländer wohl-organisiert, aber seltsam konturlos. Bei der Finanzdebatte über die EU-Haushaltsplanung für den Zeitraum 2007 bis 2013 musste sich Balkenende vornehm zurückhalten, weil er als Ratspräsident zur Neutralität verpflichtet ist. Dabei hätte er gerne seinen strikten Sparkurs durchgesetzt. Die Niederlande zahlen pro Kopf der Bevölkerung am meisten in die Brüsseler Kassen ein und setzen sich zusammen mit anderen Netto-Zahlern für eine Deckelung des Gemeinschaftshaushaltes ein. Hier stehen sich nach sechs Monaten Präsidentschaft die Positionen der Netto-Zahler- und Netto-Empfänger-Länder unversöhnlich gegenüber.

Probleme vertagt

Jean-Claude Juncker
Übernimmt mit der Ratpräsidentschaft auch Altlasten: JunckerBild: AP

Bei einem anderen Reizthema, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, verhielten sich die Niederländer ebenfalls abwartend. Obwohl der niederländische Finanzminister Gerrit Zalm einer der härtesten Verfechter solider Staatsfinanzen ist, musste er zusehen, wie der Pakt Stück für Stück, vor allem von Deutschland und Frankreich, aufgeweicht wird. Viele Probleme wurden von den Niederlanden einfach vertagt und an die nächste Präsidentschaft - Luxemburg – weitergegeben.

Einheitliche Asylverfahren

Erreicht hat Jan-Peter Balkenende die Verabschiedung eines weit reichenden Programms, das den Kurs der Innen- und Justizpolitik der EU in den nächsten fünf Jahren vorgeben wird: Einwanderung und Asylverfahren sollen einheitlich geregelt werden.

Europäische Werte

Nachdem die europäischen Wählerinnen und Wähler dem EU-Parlament bei den ersten Wahlen in allen 25 Mitgliedsstaaten die kalte Schulter zeigten, wollte die niederländische Präsidentschaft "Europa den Bürgern wieder näher bringen". Es gab erste Versuche, eine Werbekampagne zu starten und eine Debatte über europäische Werte auszulösen. Doch das sind zarte Pflänzchen geblieben, die noch jahrelange Pflege brauchen werden. Eine Konferenz der Europa-Minister unter dem schönen Titel "Communicating Europe" brachte wenig konkrete Ergebnisse - außer dem Versprechen, künftig mehr zu tun.

Und sonst?

Jan-Peter Balkenende widerstand dem deutsch-französischen Druck, das Waffenembargo gegen China aufzuheben. Die Abgesandten der EU und Staatsmänner aus EU-Staaten vermittelten erfolgreich in der Ukraine. Das Verhältnis zu Russland kühlte in den letzten sechs Monaten weiter ab. Trotz wortreicher Ankündigungen im Sommer ist es den Niederländern nicht gelungen, im Sudan auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Zunächst drohte der niederländische Außenminister Bernard Bot der sudanesischen Regierung wegen der Lage in Darfur Sanktionen an. Bald aber musste er zurückstecken, nachdem die EU sich nicht auf eine einheitliche Haltung einigen konnte. Dabei ist es bis heute leider geblieben. Kein Ruhmesblatt.

So geht's weiter...

Europa bleibt für Jan-Peter Balkenende weiter ganz oben auf der Tagesordnung. Im kommenden Sommer muss er eine Volksabstimmung über die während seiner Präsidentschaft unterzeichnete erste EU-Verfassung gewinnen. Die Niederländer sind skeptisch, aber Balkenende ist sich sicher, dass die Zukunft seines kleinen, aber wohlhabenden Landes in Europa - und nur in Europa - liegt.

Von den Lasten der EU-Präsidentschaft können sich die Niederlande nun erst einmal gründlich erholen. Die nächste Präsidentschaft - im Team mit zwei anderen Ländern - steht erst 2016 an. Dann kann die Türkei, die unter niederländischer Präsidentschaft zu einem langen Verhandlungsprozess eingeladen wurde, vielleicht unter niederländischer Präsidentschaft beitreten.