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Kommt in Russland die „patriotische Zensur“?

21. Juli 2005

Die Regierung in Moskau hat ein Programm zur patriotischen Erziehung der Bürger beschlossen. Der russische Schriftsteller Wladimir Wojnowitsch sagte DW-RADIO, er sehe darin den sinnlosen Versuch, die Zensur einzuführen.

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Moskau verordnet mehr PatriotismusBild: AP

DW-RADIO/Russisch: Das am 18. Juli beschlossene auf fünf Jahre angelegte Programm sieht vor, dass patriotische Themen in Medien und Literatur breiten Raum einnehmen sollen. Ferner sollen auf Bestellung des Staates patriotische Produkte hergestellt werden. Wie stehen kulturschaffende Menschen dem Programm gegenüber?

Wladimir Wojnowitsch: Für kulturschaffende Berufe wie Schriftsteller ist das wohl positiv. Ein solcher Staatspatriotismus ist ein großes Feld, auf dem beispielsweise Satiriker viel sammeln können. Das ist doch sehr schön. Darüber kann man schreiben und lachen. Man sagt, Satiriker haben heute nichts, worüber sie schreiben können. Jetzt werden sie zugeschüttet.

Die Regierung plant, wie es heißt, gegen Versuche, den Patriotismus in den Medien, der Literatur und in der Kunst zu diskreditieren, vorzugehen. Bedeutet dies, dass der Kreml offen die Einführung einer Zensur ankündigt?

Natürlich! Seit vielen Jahren gibt es bereits den Versuch, die Zensur einzuführen. Ich denke, eine totale Zensur wird es aber nicht geben. Schriftsteller beklagen sich darüber, dass das Interesse an Literatur verloren gegangen ist. Nun wird man zwischen den Zeilen schreiben müssen. Vielleicht wird man im Samisdat („Selbstverlag“) veröffentlichen müssen. Das Interesse an Literatur wird steigen und aus diesem Staatspatriotismus wird sowieso nichts.

Wie bewerten Sie die Lage der Gesellschaft in Russland insgesamt?

Es gibt sehr viele Merkmale der sowjetischen Ordnung in der Gesellschaft. Es gibt wieder Wahlereignisse nach sowjetischem Muster und die gleiche Propaganda. Es sind wieder irgendwelche Gruppen von Menschen aufgetaucht, die alles gutheißen. Wenn die Gesellschaft keine normalen menschlichen Ziele hat, dann färbt auf sie die Propaganda ab. Ein solcher Patriotismus wird große Risse reißen. Viel Geld wird man ausgeben. Die patriotische Rhetorik ist bei uns in Mode gekommen. Wer von sich sagt, Patriot zu sein, kann damit Karriere machen. Man kann Dieb oder egal was sein und sich hinter patriotischen Phrasen verstecken.

Was droht den schwererziehbaren Russen oder denjenigen, die sich der patriotischen Bildung verweigern?

Das Programm ist eine absolut leere Sache, weil es nichts Gutes bringen wird. Es wird aber auch keine tragischen Folgen haben, weil die Menschen schon etwas schlauer sind. Eine Zensur nach sowjetischem Vorbild einzuführen, ist unter den heutigen Bedingungen unmöglich. Jede Gesellschaft, so auch die heutige russische, steht in Kontakt zur Weltgemeinschaft und ist mit ihr eng verwoben. Hinzukommen die heutigen Medien - Radio, Fernsehen und Internet. In der Sowjetzeit war das schon absurd und heutzutage umso mehr sinnlos.

Das Interview führte Sergej Wilhelm

DW-RADIO/Russisch, 18.7.2005, Fokus Ost-Südost