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Unser freundlicher Diktator

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
29. Oktober 2015

Die EU-Sanktionen gegen den weißrussischen Herrscher Alexander Lukaschenko werden jetzt bis Anfang 2016 ausgesetzt. Damit öffnet Brüssel einen Türspalt für eine vorsichtige Hinwendung zu Europa, meint Barbara Wesel.

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Alexander Lukaschenko beim Ukraine-Krisengipfel in Minsk
Bild: DW/E. Danejko

Eines ist klar: Der weißrussische Präsident Lukaschenko ist kein lupenreiner, er ist einfach überhaupt kein Demokrat. Das verbindet ihn mit dem großen Nachbarn Wladimir Putin, von dessen wirtschaftlicher Unterstützung Weißrussland nach wie vor stark abhängt. Der autokratische Herrscher in Minsk wird dabei gern "der letzte Diktator Europas" genannt. Aber diese Etikettierung soll jetzt die EU nicht mehr davon abhalten, die Entwicklung Lukaschenkos etwas differenzierter zu betrachten. Sie setzt die langjährigen Reise- und Vermögensbeschränkungen gegen ihn und rund 170 seiner Getreuen nun zunächst aus, mit der Aussicht sie Anfang nächsten Jahres vielleicht ganz aufzuheben.

Erste Belohnung für kleines Tauwetter

Einige Oppositionelle haben diese Öffnung der Beziehungen kritisiert. Tatsächlich aber steht dahinter der Versuch der EU, einem kleinen politischen Tauwetter in Minsk Rechnung zu tragen. Da wird zunächst die Rolle Lukaschenkos bei den Verhandlungen mit Putin über die Befriedung des Ukrainekonfliktes belohnt. Der Weißrusse fand die Annexion der Krim ziemlich beunruhigend und hat sie auch laut kritisiert. Für ihn wurde an diesem Fall glasklar, dass Moskau nicht zögert, sich kleine Nachbarn einzuverleiben, wenn sie die Pläne des Kreml durchkreuzen. Zu viel politische Selbstständigkeit kann die Satellitenstaaten am östlichen Rand also das Leben kosten. Zu wenig wiederum kostet sie ihre wirtschaftliche Entwicklung, wie man am Beispiel Weißrusslands sieht: Die Wirtschaftsleistung des Landes ist zuletzt um 3,5 Prozent gefallen - die russische Krise zieht das Land mit runter. Lukaschenko ist also gezwungen, vorsichtige Reformen in Gang zu setzen und sich dafür etwas gegenüber der EU zu öffnen.

Die Europäer wiederum wollen zwar die Entlassung von politischen Gefangenen und das Nachlassen der Repression in Minsk honorieren - andererseits aber auch keine Vorschusslorbeeren verteilen für ein Regime, das nach wie vor keinem demokratischen Standard genügt. Das gilt auch für die Präsidentschaftswahlen, die vor knapp drei Wochen stattfanden: Der Weg zur Einhaltung demokratischer Standards sei noch weit, so berichteten OSZE-Beobachter. Für die europäische Außenpolitik aber ist hier schon der Weg das Ziel: Jeder kleine Spalt, der sich in der Wand der Putin-Unterstützer öffnet, gilt als Wert an sich. Jeder Regierungschef aus dem Kreis der früheren Sowjetrepubliken, mit dem man verhandeln kann, ist ein Pluspunkt. Da werden auch schon kleine Liberalisierungsschritte belohnt.

Barbara Wesel Studio Brüssel
Barbara Wesel, DW-Korrespondentin in BrüsselBild: DW/G. Matthes

Ist die östliche Nachbarschaftspolitik doch nicht tot?

Im Frühsommer wurde laut beklagt, wie wenige vorzeigbare Erfolge die EU mit ihrer östlichen Nachbarschaftspolitik verbuchen könne. Inzwischen sieht es so aus, als ob die politische Entwicklung durchaus auch für die Europäer arbeitet, weil die Staaten Angst vor Putins Würgegriff bekommen. Beide Seiten balancieren also auf einem schmalen Grat zwischen vorsichtiger Annäherung und dem Bemühen, dem russischen Präsidenten keine weiteren Vorwände für militärisches Eingreifen vor "seiner Haustür " zu liefern.

Die Wiederentdeckung der Realpolitik

Moralisch ist es durchaus fragwürdig, den Autokraten Lukaschenko jetzt schon für halbwegs gute Führung zu belohnen. Etwas weniger Unterdrückung macht noch keinen weißrussischen Frühling. Aber die Europäer haben die Realpolitik wieder entdeckt. Insbesondere am Beispiel Türkei kann man sehen, wie das funktioniert: Die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage ist Brüssel derzeit wichtiger, als den längst diktatorisch agierenden Präsidenten Erdogan durch eingefrorene Beziehungen zu strafen. Die EU braucht Ankara mehr als umgekehrt: Da ist sie denn bereit, eigene demokratische Ansprüche gegenüber der türkischen Regierung zurückzustellen. Von dieser neuen Gewichtung in Brüssel profitiert jetzt auch Lukaschenko. Das Zeitalter der guten Beziehungen zu befreundeten Diktatoren tritt damit in eine neue Ära ein.

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