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Steuern auf Sicht in Europa

3. März 2016

Die Flüchtlingskrise politisch gestalten, das gleicht dem Steuern eines Segelschiffes auf Sicht. Um das Ziel zu erreichen, ist da mitunter auch eine plötzliche und überraschende Wende nötig, meint Christoph Strack.

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Niederlande Galionsfigur Schiff in Museumshafen Willemsoort
Bild: Imago/J. Tack

Ist das jetzt die "Wende"? Oder war das schon die "Wende" in der deutschen Flüchtlingspolitik? SPD-Chef Sigmar Gabriel jedenfalls zeigte sich dieser Tage überzeugt, dass "die oftmals geforderte Wende in der deutschen Politik längst stattgefunden hat". Jene, die auf eine Wende warten und Begrenzung fordern, werden fragen: Wie? Wo? Jene, die an offenen Grenzen festhalten, erwidern: Wann? Oh weh!

Hat Bundeskanzlerin Angela Merkel nun umgesteuert? Steuern bedeutet verantwortliches Handeln, auch politisches Handeln. Es geht darum, Kurs zu halten zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Doch steuern bedeutet nicht automatisch umsteuern. Bei einem guten Steuermann liegt ein Schiff mehr oder weniger elegant in der See, bei abruptem Umsteuern fliegen in der Bordbar hingegen die Gläser vom Tisch. Wie auch bei einer plötzlichen Wende.

Steuern in Untiefen und plötzlichen Strömungen

Gelegentlich hat Angela Merkel in den vergangenen Monaten davon gesprochen, dass die Politik und auch sie bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise auf Sicht fahre. Und die Bundeskanzlerin betont, dass man sich jeweils neuen Entwicklungen stellen müsse. Ihre Eckpunkte lauten dabei seit einiger Zeit: deutliche Reduzierung der Zahl neuer Flüchtlinge, striktes Nein zu jeder Festlegung einer "(Ober-)Grenze", Festhalten und Arbeiten an einer europäischen Lösung (inklusive Erhalt des Schengen-Raums und der offenen Grenzen in Europa), Bekämpfung der Fluchtursachen. Was ist illusorischer Wunsch und was ist erreichbare Wirklichkeit - darüber kann man bei diesen Eckpunkten streiten. Die aktuelle Situation in Griechenland und auf dem Westbalkan zeigt die Schwierigkeiten des Steuerns in all den Untiefen und plötzlichen Strömungen.

Zum System Merkel gehört nicht nur kluger Pragmatismus und langes Abwarten, sondern gehören auch plötzliche Wenden. Der Abschied von der Wehrpflicht oder der Atom-Ausstieg sind Beispiele. Im Vergleich dazu war die Öffnung der Grenze für Flüchtlinge Anfang September 2015 keine grundsätzliche politische Wende. Auch schon in den Wochen und Monaten zuvor waren hunderttausende Flüchtlinge unkontrolliert nach Deutschland gekommen. Merkel spricht mit Blick auf die Grenzöffnung über europäische Vorgaben hinweg von einer Entscheidung aus einem "humanitären Imperativ" heraus. Wer so argumentiert, muss nun unter den schlimmen Bilder aus Idomeni, dem Grenzort zwischen Griechenland und Mazedonien, erst recht leiden.

Strack Christoph Kommentarbild App
Christoph Strack ist Korrespondent im HauptstadtstudioBild: DW

Immer wieder Kurskorrekturen seit Herbst

Politik auf Sicht - das brachte seit September 2015 manche Kursänderung - und auch die Erkenntnis, dass Merkel und Deutschland in Europa ziemlich alleine dastehen. Deshalb werden nun alle Seiten die Bilder aus Idomeni oder der Innenstadt Athens hinnehmen - die Deutschen und die Europäer. Zumindest bis Montag, bis zum nächsten EU-Gipfeltreffen zur Flüchtlingskrise.

Mag sein, dass danach leise gegengesteuert wird. Pragmatisch. Wie seit vielen Wochen schon gesteuert oder korrigiert wird. Die grundsätzlichen Eckpunkte "Reduzierung - keine Obergrenze - europäische Lösung" prägen allerdings nach wie vor Merkels Kurs und ihr Steuern. Zwischen den Bildern aus Budapest und den toten Flüchtlingen, die in einem Wurst-Laster auf einer österreichischen Autobahn elendig krepierten, und den Szenen aus Idomeni liegen nicht nur sechs Monate. Dazwischen liegt aus deutscher Sicht auch die Ernüchterung über Europa. Merkel steuert auf Sicht. Aber sie wendet sich nicht ab von ihren Eckpunkten.

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