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Ruhig bleiben, weiterverhandeln

15. August 2016

Allen Erpressungsversuchen zum Trotz: Die Türkei hat ein starkes Interesse, sich an das Flüchtlingsabkommen mit der EU zu halten. Doch Brüssel sollte sich unabhängiger machen, meint DW-Redakteur Christoph Hasselbach.

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Cavusoglu vor türkischer Flagge (Foto: picture alliance/AP Photo/A. Unal)
Bild: picture alliance/AP Photo/A. Unal

Es ist nicht das erste Mal, dass Vertreter der türkischen Führung der EU drohen. Präsident Erdogan selbst hat mehrfach gesagt, ohne baldige Visaliberalisierung für türkische Staatsbürger werde er sich nicht mehr an das Flüchtlingsabkommen mit der EU gebunden fühlen. Jetzt hat Außenminister Cavusoglu in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung nachgelegt. Der EU warf er "Türkei-Feindlichkeit" vor. Und dann kam erneut der Satz, der auf das Flüchtlingsabkommen zielt: "Entweder wenden wir alle Verträge gleichzeitig an, oder wir legen sie alle zur Seite." Mit anderen Worten: Kommt die Visabefreiung nicht bis Oktober, lassen wir wieder Migranten in die EU weiterreisen.

Für viele in der EU war die Verbindung aus Flüchtlingsabkommen und Visabefreiung bereits vor Erdogans Reaktion auf den Putschversuch schwer zu akzeptieren. Das gilt erst recht heute nach immer neuen "Säuberungen", Repressionen und Erdogans Andeutung, er werde einer Wiedereinführung der Todesstrafe nicht im Wege stehen. Auch Cavusoglu hat jetzt Verständnis für die Todesstrafe gezeigt. Käme sie, wäre das der Todesstoß für die EU-Beitrittsverhandlungen. Das wissen natürlich Erdogan und Cavusoglu. Doch sie wissen auch, dass die EU wegen der Migrationsfrage erpressbar ist - oder sich zumindest so fühlt.

Die Visabefreiung war schon vor dem Flüchtlingspakt geplant gewesen. Und es war unglücklich, dass sie dann in den Pakt hineinkam als zusätzlicher Anreiz für die Türkei, ihren Teil zu leisten. Dennoch hat die EU hier keinen Blankoscheck ausgestellt, sondern klare Bedingungen gestellt. Heute sieht sie Brüssel weniger denn je erfüllt. Vor allem bemängelt die EU, dass die Türkei Anti-Terror-Gesetze gegen missliebige Oppositionelle anwendet.

Kein Grund zur Willfährigkeit

Christoph Hasselbach (Foto: DW/M.Müller)
DW-Redakteur Christoph HasselbachBild: DW/M.Müller

Was also ist zu tun? Die EU selbst sollte das Flüchtlingsabkommen auf keinen Fall aufkündigen. Denn bisher hält sich die Türkei weitgehend an ihren Teil: Seit dem Inkrafttreten kommen kaum noch Migranten auf die griechischen Inseln. Für die EU ist das eine große Erleichterung.

Trotz aller Rhetorik ist es unwahrscheinlich, dass die Türkei ihre Drohung wahrmacht. Denn sie hat ein starkes Interesse an weiterhin engen Beziehungen: Die wirtschaftliche Abhängigkeit ist groß; die EU lindert ein wenig die Isolation, in die Erdogan das Land geführt hat; schließlich bekommt Ankara von der EU viel Geld, um Flüchtlinge auf eigenem Territorium zu versorgen. All das stünde auf dem Spiel.

Viele Europäer sähen aber eine ebenso große Gefahr darin, wenn Ankara die Bedingungen für die Visabefreiung erfüllte. Dann stünde die EU im Wort und müsste "liefern". Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen in der Türkei bestünde dann die Möglichkeit, dass eine große Zahl türkischer Oppositioneller und vor allem Kurden eine Reise in die EU nutzten, um hier politisches Asyl zu beantragen. Deutschland und anderen EU-Ländern stünde wohl eine neue Migrationswelle bevor. Aber auch für diesen Fall haben verschiedene EU-Staaten bereits vorgesorgt und eine "Notbremse" vereinbart.

Es gibt daher weder Grund zur Panik noch zur Willfährigkeit gegenüber Erdogan.

Dennoch kann die EU auch selbst etwas tun, um sich von der Türkei unabhängiger zu machen. Die Sperrung der Balkanroute hat vielleicht mehr dazu beigetragen, dass die Flüchtlingszahlen so stark zurückgegangen sind, als das Abkommen mit der Türkei; ebenso die Maßnahme, Migranten zunächst auf den griechischen Inseln festzuhalten. Dort können sie Asyl beantragen, aber es gibt kein Recht, sich das genaue Asylland auszusuchen.

Doch letztlich muss die EU ihre Außengrenzen vollständig selbst sichern können, statt diese Aufgabe an andere zu delegieren. Das heutige Flüchtlingsabkommen mit der Türkei kann nur eine Übergangslösung sein.

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Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik