1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Multikulti auf der Suche nach sich selbst

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
30. Juli 2016

Ein junger Mann mit ausländischen Wurzeln erschießt gezielt Ausländer. Der Amoklauf von München offenbart die Krise moderner Identitäten. Multikulturelle Gesellschaften müssen Antworten finden, meint Kersten Knipp.

https://p.dw.com/p/1JYUm
Zeichen der Trauer nach dem Amoklauf von München (Foto: DW/D. Regev)
Zeichen der Trauer nach dem Amoklauf von MünchenBild: DW/D. Regev

Er war mehr als nur ein einfacher "Arier". Nämlich gewissermaßen ein doppelter Arier. Das, so sah er es, verbürgte zum einen die Herkunft der Eltern aus Iran, jenem Land, dessen Name die moderne Kurzform des mittelpersischen "Ērān šahr", "Land der Arier" ist. Und zum anderen verbürgte es die eigene Geburt in Deutschland, jenem Staat, der sich selbst vor 70, 80 Jahren als Zentrum dieses Ariertums verstanden hatte.

Es sind entlegene Pfade, auf denen sich der Amokläufer von München durch sein Leben quälte. Vor den Herausforderungen der Moderne entfloh er in Legenden der Vergangenheit. Allein in den mythischen Welten völkischen Denkens schien ihm das Leben erträglich, nur dort glaubte er jenen Halt zu finden, den ihm die Wirklichkeit offenbar nicht bot. Seine Referenz: die Herkunft. "Ich bin Deutscher", rief er auf dem Dach des Münchner Parkhauses seinem Gegenüber zu. "Ich bin in Deutschland geboren."

Juristische versus gesellschaftliche Realitäten

Ein Deutscher, einer, der sich mit diesem Land identifizierte, in dem er sich doch nicht zurechtfand. Der neben dem iranischen auch einen deutschen Pass hatte. Ein Dokument also, das seine Identität als Deutscher - und in seinen Augen wohl auch als "Arier" - zweifelsfrei dokumentierte. Und das es doch nicht vermochte, ihm einen anerkannten Platz in der deutschen Gesellschaft zu sichern. Das Leben des Todesschützen von München war das eines Außenseiters unter den verschärften Bedingungen der Globalisierung.

Juristisch, etwa durch das Staatsangehörigkeitsrecht, versucht Deutschland - wie eine ganze Reihe anderer europäischer Staaten auch - diesen Bedingungen zu entsprechen. Mit gewissen Einschränkungen kann deutscher Staatsbürger werden, wer in Deutschland geboren ist.

Knipp Kersten Kommentarbild App
DW-Autor Kersten Knipp

Das Problem: Die juristischen Realitäten sind den gesellschaftlichen in weiten Teilen voraus. Der Münchener Amokläufer "hasste" Türken und Araber, ist zu lesen. Von Mobbing und Hänseleien wird berichtet. Man kann sich vorstellen, dass er auf dem Schulhof manch bittere Erfahrung sammelte.

Wilde Kategorien

"Türken" und "Araber". Die Wortwahl des Amokläufers zeigt, in welchen Kategorien er dachte. Nicht ganz abwegig ist die Vermutung, dass er seinerseits für die "Türken" und "Araber" nicht der "Deutsche" war, sondern vielmehr der "Iraner". Auf jeden Fall ist eine ethnische Komponente im Spiel, die in ihrer in diesem Fall tödlichen Destruktivität den Idealen der liberalen Republik in nichts entspricht.

Die Gesetze der Bundesrepublik sind dem gesellschaftlichen Klima in Teilen voraus. Gesetze sind nackt und abstrakt. Sie sollen, sie müssen es sein, denn nur so garantiert das Recht seinen überpersönlichen Charakter, nur so legitimiert sich seine Gültigkeit für ausnahmslos alle Bürger.

Das Problem ist nur: Das Recht allein begründet ganz offenbar keine Identität. Zumindest für sehr viele Menschen bietet es keinen emotionalen Bezugspunkt, nichts, an das sie psychologisch anknüpfen könnten. Die Folge: Nicht wenige Menschen halten sich ungerührt weiter an die längst überwunden geglaubte Referenz ihrer Herkunft beziehungsweise der ihrer Vorfahren.

Auf der Suche nach dem "Wir"

Die multikulturelle Gesellschaft, heißt es, sei eine Bereicherung. Mag sein. In diesen Wochen zeigt sie vor allem ihre Abgründe. Auch der Dschihadismus speist sich, neben hoher krimineller Energie, aus völlig kruden Identitätsentwürfen, die in radikalen, islamistischen Kreisen propagiert werden. Ebenso deuten die zahlreichen nationalistischen Bewegungen in den unterschiedlichsten europäischen Ländern an, dass das gewohnte Lebensgefühl aus dem Lot geraten ist.

Werden diese Verlusterfahrungen aber nicht auf geordnete Bahnen überführt, nicht durch zivilisierte Identitätsentwürfe kompensiert, verlieren die bisherigen ihre Zivilität. Dann schlägt die Stunde schwarzer Fahnen mit Führer- oder Prophetenlob, die Stunde der Messer und Äxte, der zweckentfremdeten Lastwagen, scharfgemachten Rucksäcke und Pistolen.

Auch die Friedfertigkeit multikultureller Gesellschaften gründet auf einem "Wir"-Gefühl. Das aber ist derzeit nicht einmal im Ansatz vorhanden.

Sie können unterhalb dieses Artikels einen Kommentar abgeben. Wir freuen uns auf Ihre Meinungsäußerung!

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika