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Politik

Kanzlerin Merkel, die Corona-Revolution und wir

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
18. März 2020

Angela Merkel bezeichnet die Corona-Pandemie in der ersten außerordentlichen TV-Ansprache ihrer Amtszeit als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit übertreibt die Kanzlerin nicht, meint Martin Muno.

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Deutschland Berlin | Coronavirus | Ansprache Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Kanzlerin Angela Merkel spricht im Fernsehen über die Corona-PandemieBild: Reuters/F. Bensch

"Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." Bundeskanzlerin Angela Merkel ist keine Freundin des Pathos. Nüchtern, analytisch, zurückhaltend in der Wortwahl pflegt sie selbst über größte politische Herausforderungen zu reden - eben als promovierte Naturwissenschaftlerin. Und immer optimistisch, wie während der Flüchtlingskrise: "Wir schaffen das."

Wenn also die Frau, die seit mehr als 14 Jahren Deutschland regiert, sich zum ersten Mal außerhalb der rituellen Neujahrsansprache direkt übers Fernsehen an die Bürgerinnen und Bürger wendet, wenn sie zudem historische Vergleiche zieht zu einem Krieg, der weltweit 55 Millionen Menschen das Leben gekostet und Deutschland in Trümmer gelegt hat; wenn Angela Merkel so spricht, dann ist etwas aus den Fugen geraten.

Exponentielle Ausbreitung

Und wir merken es alle: Geschlossene Schulen, Kitas und Läden, ganze Unternehmen, die ihre Leute in den Zwangsurlaub oder ins Home Office schicken, Hamsterkäufe, soziale Einschränkungen von der stornierten Urlaubsreise bis zur Quarantäne prägen unseren Alltag. Im Gespräch mit Familien, unter Freunden und Bekannten gibt es kaum noch ein anderes Thema als das Virus.

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DW-Redakteur Martin Muno

Wie groß die Bedrohung ist, zeigen die Mathematiker, wenn sie von einer exponentiellen Ausbreitung sprechen. Anfang März gab es in Deutschland 130 COVID-19-Infizierte, heute sind es mehr als 11.000. Das Tempo der Ausbreitung entspricht damit den Prognosen der Wissenschaftler. Wenn das in diesem Tempo so weitergeht, wird schon bald die Schwelle von 100.000 oder gar von Millionen erreicht - wir reden hier noch nicht über Dunkelziffern. Und: Die Pandemie ist keine nationale Bedrohung, sondern eine weltweite.

In dieser Situation macht die Kanzlerin das einzig richtige: Sie weist nicht an, sie appelliert an unsere Vernunft. Sie vertraut darauf, dass wir uns als aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger der Lage angemessen verhalten. "Soziale Distanz" ist das Stichwort - etwas flapsiger ausgedrückt als Hashtag "#stayfuckinghome" - bleibt verdammt noch mal zu Hause. Oder, wie die Kanzlerin sagt: "Wir sind nicht verdammt, die Ausbreitung des Virus passiv hinzunehmen. Wir haben ein Mittel dagegen: Wir müssen aus Rücksicht voneinander Abstand halten."

Mehr Tote, weniger Freiheiten

Der Haken daran ist, und auch das erwähnt Angela Merkel, dass es mit ein paar Wochen Zwangspause nicht getan ist: "Die nächsten Wochen werden noch schwerer". Es wird mehr Tote, enorme wirtschaftliche Schäden und vielleicht sogar soziale Verwerfungen geben.

Und: Wir müssen Freiheiten aufgeben. Das aber nicht zum Selbstzweck, sondern notwendigerweise. Für uns als Gesellschaft - egal, wo wir leben - ist das eine riesige Herausforderung. Aber es kann auch eine Chance sein. Schon jetzt wirft das kleine Virus ein Schlaglicht auf die unerhörte Dummheit der großen Populisten - man schaue sich nur Videos von Donald Trump an. Wir lernen schon jetzt, dass wir auch anders kommunizieren können, die Videotelefonie wird Alltag. Und wir spüren, dass wir irgendwie zusammengehören, dass Solidarität auch zwischen Fremden etwas ist, was gut tut - und wenn die Achtsamkeit gegenüber den anderen nur darin besteht, die Straßenseite zu wechseln.

Was uns erwartet, das bringt der Philosoph Slavoj Zizek mit einem Satz auf den Punkt: "Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren." Wir werden lernen, ein zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen. Wir stecken mitten in einer Revolution - und es liegt an uns, ob sie einen guten Ausgang nimmt oder nicht.

Bitte, bleiben Sie gesund!

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Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus