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Für eine kritische Willkommenskultur

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
29. August 2015

Was die hohe Zahl der Flüchtlinge für die politische Kultur Deutschlands langfristig bedeutet, lässt sich bisher kaum abschätzen. Umso mehr kommt es darauf an, sich rechtzeitig Gedanken zu machen, meint Kersten Knipp.

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Syrische Flüchtlingskinder in Deutschland, 15.08.2015 (Foto: Imane Mellouk)
Bild: DW/I. Mellouk

In der Asyl- und Flüchtlingsdebatte treiben zumindest die besonnenen unter den deutschen Medien derzeit eine Art von Sprachpflege: Gewisse Metaphern sollen nicht mehr gebraucht werden. Die Begriffe "Flüchtlingsstrom" oder "Flüchtlingswelle(n)" zum Beispiel. Denn sie stellen die Migration unterschwellig als eine Art Naturgewalt oder gar -katastrophe dar und schüren entsprechende Ängste. Lassen wir diese Begriffe also. Denn Angst, sagt ein deutsches Sprichwort, ist ein schlechter Ratgeber.

Doch auch ganz ohne suggestive Untertöne wirft die ungesteuerte Zuwanderung in der aktuellen Dimension ein paar unangenehme Fragen auf. Und ganz gleich, wie man sie beantwortet: Es kommt zunächst darauf an, diese Fragen zu stellen. Allein schon aufgrund der Zahlen: 800.000 Flüchtlinge und Asylbewerber erwartet das Bundesinnenministerium - allein in diesem Jahr. Und schaut man in die Regionen, aus denen die meisten von ihnen kommen, spricht wenig dafür, dass künftig weniger Menschen um Aufnahme bitten werden als bislang.

Aus welchem Umfeld kommen die Menschen?

Die größte Gruppe unter den nach Deutschland kommenden Menschen bilden weiterhin die Zuwanderer aus den Balkanstaaten. Fast 40 Prozent stammen von dort. Ihre Zahl wird absehbar sehr stark schrumpfen - das Leben dort mag schwierig sein, aber Krieg oder Verfolgung gibt es dort nicht. Damit entfällt der entscheidende Asylgrund.

Es bleiben die Menschen aus den Kriegsgebieten in Afrika und Nahost, allen voran die Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan, Pakistan, Eritrea und Nigeria. Sie stellen weitere 40 Prozent der Flüchtlinge und Asylbewerber. Numerisch sind das also 320.000 Menschen in diesem Jahr. Eine solche Zahl muss zwar nicht, kann aber langfristig einige Probleme mit sich bringen. Denn bei der Bewertung des Asylantrags geht es allein um die Frage, ob die jeweilige Person in ihrer Heimat verfolgt wird.

DW-Autor Knipp Kersten (Foto: DW)
DW-Autor Kersten Knipp

Mit ihr ist aber noch nichts über die jeweiligen Einstellungen der Person gesagt. In welche Beziehung setzt sie etwa konfessionelle und laizistische Positionen? Wie bewertet sie das Verhältnis der Geschlechter? Wie steht sie zum säkularen Staat? Welche Strategien der Konfliktlösung beherzigt sie? Angesichts der überwiegend konservativ geprägten und weitflächig gewaltgeplagten Region sind das legitime Fragen.

Deutschland will eine liberale Gesellschaft bleiben

Sicher, das riecht nach Gesinnungsschnüffelei. Außerdem lassen sich viele dieser Fragen nicht eindeutig beantworten: Was etwa "liberal", "konservativ" oder "reaktionär" ist, ist in erste Linie eine Sache der Auslegung.

Gleichgültig können und dürfen diese Fragen trotzdem nicht sein. Denn wie viele Menschen auch immer in diesem und den kommenden Jahren nach Deutschland kommen werden: In jedem Fall bringen sie ihre Werte, Traditionen und Anschauungen mit. Will Deutschland das weltoffene und liberale Land bleiben, dass es ist, muss es hoffen, dass auch die Zuwanderer für diese Werte stehen. Das ist nicht unwahrscheinlich. Über jeden Zweifel erhaben aber auch nicht.

Derzeit ist Deutschland voll und ganz damit beschäftigt, die Flüchtlinge zu versorgen. Eine angesichts der hohen Zahlen alles andere als einfache Aufgabe. Recht bald muss aber auch eine Debatte darüber beginnen, was diese Zahlen für die politische Kultur Deutschlands bedeuten. Werden sie die liberale Identität des Landes stabilisieren? Oder werden sie sie verändern? Die einzig sichere Antwort lautet: Man weiß es nicht. Die deutsche Willkommenskultur ist großzügig. Sie muss aber auch verantwortlich sein, den Flüchtlingen ebenso wie dem eigenen Land gegenüber.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika