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Flüchtlinge müssen arbeiten (dürfen)

Wirtschaftskolumnist der Deutschen Welle Andrey Gurkov
Andrey Gurkov
12. September 2015

Der Zustrom von Hunderttausenden Flüchtlingen birgt große Risiken für das deutsche Sozialsystem, aber auch erhebliche Chancen für den Arbeitsmarkt, meint Andrey Gurkov. Nur: die Politik muss jetzt schnell handeln.

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Ein Flüchtling bei der Arbeit in einem deutschen Betrieb (Foto: Patrick Pleul)
Bild: picture-alliance/dpa/P. Pleul

Es heißt, die Aufnahme der Flüchtlinge könnte den deutschen Staat 2016 bis zu 10 Milliarden Euro kosten. Das klingt nach einer sehr hohen Summe, ist aber genau jener Betrag, den alleine der Bund im ersten Halbjahr 2015 dank der stabilen wirtschaftlichen Entwicklung und hohen Beschäftigung als Haushaltsüberschuss erwirtschaftet hat. Der Zustrom von Flüchtlingen stellt vorerst nicht einmal das ambitionierte Ziel der Regierung in Frage, sowohl in diesem als auch im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Doch selbst wenn das nicht gelingen sollte: Eine Neuverschuldung ließe sich problemlos und günstig am Kapitalmarkt finanzieren. Die Gefahr einer Steuererhöhung ist also nicht gegeben.

Ein klassisches Konjunkturprogramm

Diese 10 Milliarden werden für die Versorgung der Flüchtlinge, die Einrichtung der Unterkünfte, die Bezahlung von Busfahrern, Handwerkern, Ärzten, Dolmetschern und anderen Dienstleistern verwendet. Es handelt sich de facto um ein klassisches Konjunkturprogramm, bei dem staatliche Gelder in den Binnenmarkt gepumpt werden. Die Krisenländer der Eurozone bitten Berlin schon seit langem, ein solches Programm aufzulegen. Sicherlich, man hätte diese Steuermilliarden auch in etwas Innovativeres als Asylbewerberheime investieren können, und der makroökonomische Nutzen dieser Ausgaben wird letztendlich nicht sehr groß sein. Doch die Aufnahme der Flüchtlinge wird kurzfristig keinen sozial-ökonomischen Schaden in Deutschland anrichten.

Mittelfristig jedoch könnte sich das Blatt wenden: Dann nämlich, wenn Hunderttausende Flüchtlinge offiziell Asyl und dadurch ein Anrecht auf alle damit verbundenen gesetzlichen Leistungen bekommen. Falls sie sich dann, statt auf Jobsuche zu gehen, mit der Sozialhilfe und dem Kindergeld begnügen, werden die Kosten explodieren. Man kann nur hoffen, dass Menschen, die ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um über Meere, Grenzen und Tausende Kilometer das Land ihrer Träume zu erreichen, dies nicht in der Absicht tun, danach bis zum Ende ihrer Tage vom deutschen Staat versorgt zu werden.

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DW-Redakteur Andrey Gurkov

Politik muss schnell und flexibel handeln

Hier ist nicht nur eine entsprechende Grundeinstellung der Neuankömmlinge gefragt. Der deutsche Staat kann vieles tun. Bislang wurden in Deutschland Asylbewerber eher vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Dies ist ein Relikt aus alten Zeiten, als der Bevölkerungsschwund und die Alterung der Gesellschaft noch nicht allgegenwärtig waren.

Heute warnen Experten eindringlich: Fehlende Arbeitskräfte gefährden den Wohlstand der Deutschen - und deren Renten. Zwar sind die meisten der ankommenden Flüchtlinge nicht unbedingt eine Idealbesetzung für die vorhandenen freien Stellen. Es geht aber zurzeit auch nicht um die Anwerbung von Arbeitskräften, sondern um das Retten von Menschen. Die 40.000 immer noch offenen Lehrstellen zeugen jedoch davon, dass es zahlreiche freie Kapazitäten gibt, um schon jetzt zumindest mit der Ausbildung der erforderlichen Fachkräfte zu beginnen.

Kulturelle Probleme entschärfen

Die Betriebe wollen aber verständlicherweise keine Lehrlinge aufnehmen, bei denen es nicht klar ist, ob sie in Deutschland bleiben dürfen oder nicht. Also muss die Politik die Bearbeitung der Asylanträge enorm beschleunigen. Und sie muss schon jetzt entscheidende Impulse für den sozialen Wohnungsbau liefern - auch durch die Lockerung bestimmter besonders strenger Standards. Ein Bauboom in diesem Segment würde wiederum der ganzen Wirtschaft zugute kommen.

Je schneller die neuen Einwohner Deutschlands mit Hilfe der Politik Arbeits- beziehungsweise Ausbildungsplätze finden, desto größer sind die Chancen, dass auch die unvermeidlichen kulturellen und religiösen Probleme zumindest teilweise entschärft werden. Doch die Weichen müssen jetzt gestellt werden. Es geht um Monate, nicht um Jahre.

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