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Politik

Der falsche Mann zur falschen Zeit

Maaß Birgit Kommentarbild App
Birgit Maaß
24. September 2016

Die Mitglieder der britischen Labour-Partei haben ihren bisherigen Vorsitzenden Jeremy Corbyn in einer Urwahl im Amt bestätigt. Schade - der 67-jährige Parteilinke ist ein Desaster für Europa, meint Birgit Maaß.

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Großbritannien Cardiff Jeremy Corbyn
Bild: Reuters/R. Naden

"Jez we can" jubeln seine Anhänger, wenn Jeremy Corbyn öffentlich auftritt. Für sie steht er für eine Labour-Partei, die zu ihren sozialistischen Wurzeln zurückkehrt: Gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, für die Umverteilung von Reichtum, für die Verstaatlichung von Bahnverkehr und Energiewirtschaft.

Auffallend viele junge Leute sind unter den "Corbynistas". Für sie ist er ein Hoffnungsträger: Einer, der ehrliche Politik macht, der sich nicht verbiegt - hat er doch die längste Zeit seines politischen Lebens auf den hinteren Bänken verbracht, war dort Gegenspieler von Tony Blair. Einer der wenigen, der gegen den Irak-Krieg gestimmt hatte, ein Sozialist der alten Schule. Blairs glattpolierte "New Labour"-Partei, die damit verbundene Idee des sogenannten "Dritten Weges", eine Aussöhnung mit dem Kapitalismus, hat für Corbyns Fans ausgedient.

Eine neue, sanftere Politik hat Corbyn seinen Anhängern versprochen. Ins Unterhaus fährt er mit dem Fahrrad, gekleidet ist er wie ein Erdkundelehrer oder in Socken und Sandalen. Die wöchentlichen "Prime Ministers Questions", bei denen der Oppositionsführer normalerweise dem Regierungschef verbale Ohrfeigen verpasst, hat er in eine Lehrstunde in Sachen Basisdemokratie verwandelt. Er lässt sich Fragen an Premierministerin Theresa May vom Volk diktieren, etwa: "Paul möchte wissen, warum die Regierung Steuererleichterungen für Familien streicht."

Innerparteiliche Machtkämpfe

Aber tatsächlich ist Corbyns Politikstil alles andere als kuschelig: Innerhalb der Labour-Partei findet ein Machtkampf statt, der brutaler nicht sein könnte. Die Corbyn-freundliche Parteibasis und die Corbyn-skeptische Fraktion im Unterhaus stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der Pazifist Corbyn und seine Verbündeten kämpfen dabei mit harten Bandagen. Kritiker wie der außenpolitische Sprecher Hillary Benn, der britische Luftangriffe auf Syrien befürwortete, haben sie entmachtet. Abgeordnete, die Corbyn nicht unterstützen, berichten von Einschüchterung in den sozialen Netzwerken. Einer Kontrahentin wurden die Fensterscheiben ihres Wahlkreisbüros eingeschlagen. Der Parteichef distanziert sich von derartigen Attacken, aber dennoch: Unter seiner Führung ist die Partei zerrüttet und handlungsunfähig.

DW-Autorin Birgit Maaß (Foto: DW)
Birgit Maaß berichtet für die DW aus London

Die Abgeordneten bezweifeln zu Recht, dass Corbyn bei den Wählern punkten könnte. Die Konservativen haben seit seinem Antritt vor einem Jahr ihren Vorsprung souverän ausgebaut. Und nach einer aktuellen Umfrage traut ihm nur ein Fünftel der Briten das Amt des Premierministers zu.

Aber es war Corbyns fehlende Führung während des Brexit-Wahlkampfes, die für viele in der Labour-Fraktion das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Für die überwiegend europafreundlichen Abgeordneten war Corbyn ein Enttäuschung sondergleichen. Kein einziges Mal war ihr Chef Seite an Seite mit David Cameron erschienen, um für die EU zu werben. Vielen Labour-Wählern war gar nicht klar, dass es offizielle Parteiline war, für Europa zu stimmen.

Nach seiner Unterstützung für die EU gefragt, auf einer Skala von eins bis zehn, kam die matte Antwort: siebeneinhalb. Gerüchten zufolge hatten Europa-Aktivisten monatelang vergeblich versucht, Corbyns Büro zu kontaktieren, um ihn in die pro-europäische "Remain"-Kampagne einzubeziehen. Später beklagten sie gar, sein Büro würde ihre Arbeit "sabotieren".

Erfolgloser Oppositionsführer

Dabei hätte ein entschlossenes Auftreten des Labour-Chefs für Europa vielleicht das Brexit-Votum verhindern können. Denn es waren vor allem die Gegenden, in denen die Partei traditionell stark vertreten ist, die für den Austritt aus der EU gestimmt haben: Haushalte mit niedrigem Bildungsstand, einfache Arbeiter, Geringverdiener.

Corbyns Verhalten sei "Verrat" hatte Phil Wilson, einer der Anführer der pro-europäischen Initiative innerhalb der Labour-Fraktion, beklagt und Corbyns Rücktritt gefordert. Weil die Fraktion ihm nach dem Referendum das Vertrauen entzog, musste sich der Parteichef erneut zur Wahl stellen. In dem Chaos, das auf den Brexit folgte, gelang es allerdings nicht, einen überzeugenden Gegenkandidaten zu finden - dem wenig bekannten Herausforderer Owen Smith wurden von Anfang an nicht viele Chancen eingeräumt.

Wahlen kann Labour mit Jeremy Corbyn also nicht gewinnen, da mögen seine Anhänger ihn noch so sehr bejubeln. Eine effektive Opposition ist die Partei in ihrem jetzigen Zustand ebenfalls nicht, dabei wäre das besonders bei den bevorstehenden Brexit-Verhandlungen dringend nötig. Für Labour ist Jeremy Corbyn ein Desaster - und für Europa eine Hauptfigur in der Brexit-Tragödie.

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