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Kommentar: Erdogans fadenscheinige Tiraden

Koehne Gunnar Kommentarbild App PROVISORISCH
Gunnar Köhne
25. Mai 2016

Merkel hat die Visafreiheit für die Türkei auf die lange Bank geschoben - Erdogan droht nun, das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen zu lassen. Ein durchsichtiger Schachzug, findet Gunnar Köhne.

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Präsident Recep Tayyip Erdogan am 10.05.2016 vor der Union der Kammern und Börsen der Türkei (Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği, TOBB) (Foto: Getty Images/AFP)
Bild: Getty Images/AFP/A. Altan

Mal droht er: "Wir werden das Flüchtlingsabkommen aussetzen", mal behauptet er ernsthaft: "Die sind bloß neidisch auf unsere Staudämme und U-Bahnen." Man sollte sich in Europa an Recep Tayyip Erdogans Beschimpfungen gewöhnen, sie werden in den nächsten Wochen sogar noch zunehmen. Und zwar bis zu dem Tag, an dem der türkische Staatschef sein Ziel erreicht hat: die Einführung des Präsidialsystems. Dafür braucht Erdogan die EU als Prügelknaben. Angesichts der herrschenden nationalistischen Stimmung im Land kommt so etwas gut an und wird helfen, eine mögliche Volksabstimmung über eine solche Verfassungsänderung zu gewinnen. Ist der Ein-Mann-Staat erst einmal errichtet, wird er wieder mildere Töne anstimmen.

Ansonsten ist Erdogans Drohung, das Flüchtlingsabkommen aufzukündigen, wenn die Visafreiheit für Türken nicht kommt, ziemlich leer. Denn auch er weiß, dass der massive Rückgang der Flüchtlingszahlen in Europa mehr mit der Schließung der Balkanroute als mit dem Rücknahmeabkommen zwischen der Türkei und der EU zu tun hat. Kündigte er das Abkommen, würden die Europäer ihre Mauern noch höher ziehen und die Türkei bliebe mit ihren 2,5 Millionen Flüchtlingen wieder allein. Es flösse dann auch kein Geld. Dabei kann die Türkei die vereinbarten sechs Milliarden Euro Unterstützung angesichts einer schwächelnden Wirtschaft gut gebrauchen.

Erdogan hat sein Land auf dem Weltnothilfe-Gipfel in Istanbul just als "großherzigstes der Welt" gepriesen. Will er die Vertriebenen wirklich ermutigen, sich wieder auf die lebensgefährliche Überfahrt nach Griechenland zu begeben?

Visafreiheit kontra Antiterrorparagraph

Und schließlich: Die Visafreiheit, die Erdogan seinen Landsleuten schon lange versprochen hat, käme bei Kündigung des Abkommens bis auf weiteres auch nicht. Zwar wird Erdogan versuchen, die Schuld dafür allein den "islamfeindlichen" Europäern zuzuschieben. Aber auch in der Türkei wissen viele, dass es Erdogan selbst war, der als Ministerpräsident 2013 die 72 Bedingungen für eine Visafreiheit unterschrieben - aber eben nicht eingelöst - hat.

Die darin geforderte Änderung des türkischen Antiterrorparagrafen kommt ihm nun ungelegen, weil genau dieses Gesetz sein wichtigstes Instrument ist, um die Opposition auszuschalten. Sollte die EU in dieser Frage, wie zu hören ist, tatsächlich zu Kompromissen bereit sein, verlöre sie bei der bedrängten Opposition in der Türkei weiter an Vertrauen. Angeblich könnte die konkrete Anpassung solcher Strafgesetze an europäische Normen den EU-Beitrittsverhandlungen überlassen werden. Die Visafreiheit käme dann bis auf Widerruf. Aber wer glaubt eigentlich noch an Beitrittsgespräche mit der Türkei?

DW-Autor Gunnar Köhne, Istanbul (Foto: DW)
DW-Autor Gunnar Köhne, IstanbulBild: DW

Erdogan braucht die EU - und umgekehrt

Die Türkei ist auf Europa angewiesen - mindestens so sehr wie Europa auf die Türkei, jedenfalls in der Flüchtlingszusammenarbeit. Die EU ist der größte Handelspartner der Türkei - und derzeit ihr einziger wohlwollender außenpolitischer Partner. Russland hat die Beziehungen zu Ankara vorerst abgebrochen, im Weißen Haus bekam Erdogan zuletzt nicht einmal mehr einen Gesprächstermin und auch die meisten arabischen Nachbarn gehen auf Distanz zu ihm. Das ist der Grund, warum Bundeskanzlerin Angela Merkel immer so entspannt aus den - vermutlich polternden - Gesprächen mit Erdogan kommt.

Europa wäre darum gut beraten, die Tiraden aus Ankara als Randnotiz zur Kenntnis nehmen. Und ansonsten nach Kräften den Demokraten in der Türkei beizustehen.

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