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Politik

Die Tafeln - ein Stachel im Fleisch

28. Februar 2018

Sie sind eine immer größer werdende Erfolgsgeschichte, aber zugleich auch ein Skandal und nicht mehr als ein Alibi. Die Krise bei der Essener Lebensmittel-Tafel verrät viel über Deutschland, meint Christoph Strack.

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Tafeln Ausgabestelle Berlin-Tempelhof
Bild: Die Tafeln/Dagmar Schwelle

Die Tafeln in Deutschland sind, so sagt man gerne, eine Erfolgsgeschichte. Die erste Lebensmittel-Tafel entstand 1993 in Berlin, heute gibt es mehr als 930 dieser Einrichtungen, die bedürftigen Menschen Hilfe bieten. Über das Bundestreffen der Tafelbewegung berichten Journalisten gelegentlich wie über die Bilanzpressekonferenz eines Franchise-Unternehmens. Bis zu 1,5 Millionen Menschen, die versorgt werden, zehntausende ehrenamtliche Helfer, rund 100.000 Tonnen Lebensmittel im Jahr, hunderte von der Industrie gespendete Fahrzeuge. Übrigens: 2015/16 versorgten die Tafeln nach eigenen Angaben auch bis zu 250.000 Flüchtlinge.

Nun hat eine Tafel schon vor Wochen gesagt: Es geht nicht mehr, es reicht; wir sind überfordert. Zur klassischen Klientel kam nämlich eine beträchtliche Zahl an Flüchtlingen. Die Verantwortlichen in Essen stoppten die Ausgabe von weiteren Berechtigungskarten an Ausländer. Um ihre gesamte Arbeit nicht zu gefährden.

Erfolg und zugleich Skandal

Die Tafeln in Deutschland sind Erfolgsgeschichte, und doch sind sie sozialpolitisch gleichermaßen ein Skandal. Was als Basisbewegung begann, ist spätestens seit den Reformen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe in der Berliner Republik ein wichtiges Element der Grundversorgung. Der hochgelobte Sozialstaat Deutschland baut auf ein Konzept, das aus den USA mit ihrem weit grobmaschigeren sozialen Netz übernommen wurde, wo die ersten Ansätze zur Tafelbewegung schon in den frühen 1960er-Jahren entstanden. Hinter den Tafeln steht letztlich auch die faktische Abkehr von der sozialen Grundversorgung und ein Stück Neoliberalismus.

Strack Christoph Kommentarbild App
Christoph Strack ist Korrespondent im HauptstadtstudioBild: DW

Die Tafeln in Deutschland sind eben auch ein Alibi. Ja, man kann und sollte das Ehrenamt loben, das breite bürgerschaftliche Engagement. Wer einmal einen Tag in einer Tafel-Einrichtung verbringt, spürt diesen Einsatz: Er lernt die gute Organisation der Ehrenamtler kennen, bewundert deren Warmherzigkeit (denn viele der Unterstützung suchenden Menschen haben wenige Sozialkontakte und finden hier ein offenes Ohr). Aber die Tafeln helfen eben oft dort, wo sich der Staat oder die Kommune längst zurückgezogen haben. Ja, und die Tafeln sind auch ein Alibi für Discounter-Ketten, die nicht mehr verkaufbare, aber gewiss noch nutzbare Produkte zur Weiterverwendung auf diese Weise mit gutem Gewissen los werden können. Ja, das ist gut so. Aber genau damit sind die Tafeln eben auch Teil des Wirtschaftskreislaufs.

Nun also der Alarmruf einer Einrichtung. Es ist kein Zufall, dass er aus dem Essener Norden kommt. Das ist einer jener Stadtteile in Deutschland, die "sozial abgehängt" sind. Es gibt sie im Ruhrgebiet mehrfach, auch in Berlin, Mannheim oder Nürnberg. In Essen hat nicht die Tafel versagt, sondern das Gemeinwesen. Ja, es ist ein Alarmruf. Da ist guter Rat wichtig. Da ist Hilfe wichtig. Wo es sozial derart brodelt, entsteht ein explosives Gemisch.

Alle wissen es besser, keiner hat eine Lösung

Doch es ist ein Ärgernis, wie die Politik mit dem Fall in Essen umgeht. Alle wissen es besser. Von links bis rechts - in der Ferndiagnose senken und heben sich viele Daumen. Den Ehrenamtler kann man leicht als Fremdenhasser abstempeln, den Flüchtling als lästig, die Hilfesuchenden als nicht wirklich arm. Der Ausländerhass, twitterte ein Sozialdemokrat, sei jetzt "sogar bei den Ärmsten angekommen".

Kanzlerin Merkel äußerte sich, nannte den Vorgang "nicht gut" und plädierte für gute Lösungen. Die Äußerung wirkte - nun ja - etwas unglücklich. Ihr Sprecher würdigte die Tafeln zwei Tage später als "wirklich wunderbare Bewegung", "Millionen von Ehrenamtlichen" seien "ein Schatz unseres Landes". "Die Tafeln sind entstanden", ergänzte er, "weil wir in Deutschland das Phänomen eines enormen Nahrungsmittel-Überschusses haben". Und der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, wusste zu berichten, mancher Abgeordneten-Kollege seiner Landesgruppe habe ähnliche Vorgänge wie in Essen auch aus seiner Heimat bestätigt. 

Aber warum haut dann niemand auf den Putz? Warum fragen sie nicht im Plenum oder in der Fraktion nach, werben für mehr politische Sensibilität? Für Hilfesuchende, die aus Deutschland stammen, aber auch für Flüchtlinge? Abgeordnete sind Vertreter der Bürger. So lange sich die Politik derart präsentiert, bleiben die Tafeln ein Stachel im Fleisch. Im Fleisch eines der reichsten Länder der Welt.

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