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Die Realität zurechtgebogen

13. Mai 2016

Die Koalition erklärt Algerien, Marokko und Tunesien per Gesetz zu sicheren Herkunftsstaaten. Damit löst sie ein Problem. Aber Recht schafft sie damit nicht, meint Mathias Bölinger.

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Symbolbild Abschiebung Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

Der Innenminister hat eine bemerkenswerte Rede gehalten. Ja, sagte er, er wisse, dass Algerien und Marokko keine Demokratie sind. Ja, er wisse auch, dass Repressalien zu befürchten hat, wer die Besatzung der Westsahara in Marokko kritisiert. Er wisse, sagte Thomas de Maizière, dass Homosexuelle in Tunesien zu Gefängnisstrafen verurteilt werden. Der Innenminister weiß also, dass diese Staaten aus menschenrechtlicher Sicht nicht "sicher" sind. Dennoch schlägt er ein Gesetz vor, das sie genau als das bezeichnet. Die Begründung: 39 Prozent der Menschen, die versuchen nach Deutschland einzuwandern, sind gar nicht asylberechtigt.

Entscheidend ist nicht die Zahl

Das ist eine beeindruckende Zahl und natürlich ist es eine große Belastung, wenn Verwaltungen viele unbegründete Anträge bearbeiten müssen. Nur: Diese Zahl belegt in keiner Weise, dass diese Staaten sicher sind. Entscheidend für die Frage, ob politische Verfolgung stattfindet, ist ja nicht die Frage, wie viele Menschen nicht politisch verfolgt werden, sondern was mit denen passiert, die verfolgt werden.

In allen drei Staaten werden Menschenrechte systematisch verletzt - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Die junge Demokratie Tunesien steht sicher besser da als der autoritäre Nach-Bürgerkriegsstaat Algerien oder die Monarchie Marokko. Aber: "sicher" ist keiner dieser Staaten. Das haben zahlreiche Gutachten ergeben, die der Bundestag dazu eingeholt hat.

Es stimmt: Für die Behörden löst das Gesetz einige Probleme, die sie mit offensichtlich unbegründeten Anträgen aus diesen Ländern haben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beobachtet, dass immer mehr Einwanderer aus Nordafrika gar keinen Asylantrag stellen. Sie versuchen, möglichst lange Zeit zu schinden, weil sie ohnehin mit einer Ablehnung rechnen. In Zukunft können sie interniert werden, damit ihr Fall schnell entschieden werden kann. Auch die Bearbeitungszeit verkürzt sich, weil Sachbearbeiter Ablehnungen nicht mehr einzeln begründen müssen, sondern auf das Gesetz verweisen können. Die Gesetzesänderung wird also ihr Ziel erreichen, die Zahl der unbegründeten Anträge zu reduzieren. Nur: Verwaltung ist Verwaltung und Recht ist Recht.

Bölinger Mathias
Mathias Bölinger, Korrespondent im HauptstadtstudioBild: DW/C. Becker-Rau

Logik der Notwendigkeit

Die Koalition argumentiert, dass auch Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten immer noch die Möglichkeit haben, im Einzelfall zu widerlegen, dass sie nicht politisch verfolgt werden. Die Logik dahinter geht ungefähr so: Wir wissen, dass unsere Annahme, diese Staaten seien frei von politischer Verfolgung, nicht stimmt. Wir beschließen trotzdem, dass es so sei. Wenn es dann im Einzelfall nicht stimmt, dann kann man es ja immer noch widerlegen. Das ist absurd. Bisher mussten Antragssteller aus diesen Ländern belegen, dass sie Anspruch auf Asyl haben. Jetzt müssen sie widerlegen, dass sie keinen haben. Das ist ein Unterschied. Ihr Recht ist damit eingeschränkt.

Es ist in einem Rechtsstaat nicht legitim, sich die Fakten so zurechtzulegen, dass sie die Bedürfnisse der Verwaltung erfüllen. Diese Staaten sind nicht "sicher". Das Gesetz versucht, die Realität an die Notwendigkeiten der Politik anzupassen. Mit anderen Worten - mit diesem Gesetz biegt sich die Koalition die Realität zurecht.

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DW Autorenbild Mathias Bölinger / Leiter Investigation
Mathias Bölinger DW-Reporter und Leiter Investigation, zuvor Korrespondent in Kyjiw und Pekingmare_porter