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Kommentar: Die gestohlene Demokratie

Ute Schaeffer9. August 2013

Kann der politische Aufbruch in Ägypten und Tunesien noch gelingen? Der Graben zwischen Säkularen und Islamisten ist tiefer denn je. Europa schaut hilflos zu. Dabei wäre gerade jetzt Haltung wichtig, meint Ute Schaeffer.

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Barrieren und Stacheldraht schützen notdürftig vor dem totalen Chaos: Auf der einen Seite die Demonstranten, die sich für eine säkulare politische Ordnung einsetzen. Auf der anderen die Vertreter eines politischen Islam. Bis vor kurzem kämpfte in Kairo die säkulare Tamarud-Bürgerbewegung gegen die Muslimbrüder in der Regierung. In Tunis fordern wütende Menschenmengen den Rücktritt der von Islamisten geführten Regierung. In Ägypten wie in Tunesien ist nun eingetreten, was viele seit langem befürchtet haben: Der "kalte Bürgerkrieg" ist eskaliert. In Ägypten hat ihn das Militär gestoppt - mit fragwürdigen Mitteln. Ob er in Tunesien gestoppt werden kann, ist noch offen.

Ute Schaeffer, Chefredakteurin Multimediadirektion Regionen der Deutschen Welle (Foto: DW/Per Henriksen)
Ute Schaeffer, Chefredakteurin Multimediadirektion RegionenBild: DW/P. Henriksen

Das sind schlechte Nachrichten: wirtschaftlich, politisch und sozial. Die aktuelle Gewalt und Konfrontation werfen Tunesien wie Ägypten um Jahre zurück. Sie verhindern, dass Investoren kommen, dass Normalität einkehrt, dass sich einigermaßen leben lässt.

Vor allem aber sind das schlechte Nachrichten für die Demokratie. Was in Tunesien im Dezember 2010 mit so vielen Hoffnungen begann, droht, sich in Luft aufzulösen. Die seinerzeit lautstark geforderte Demokratie ist für die meisten Ägypter und Tunesier ein leeres Versprechen geblieben: Sie brachte weder Gerechtigkeit, noch bessere Lebensbedingungen. Stattdessen brachte sie in beiden Ländern konservative islamistische Regierungen mit wenig Politikerfahrung an die Macht.

Gefahr für eine ganze Weltregion

Und so brach auf, was die Diktaturen zuvor erstickt und überdeckt hatten: Der Gegensatz zwischen Arm und Reich, Stadt und Land - vor allem aber der unvereinbare Widerstreit zwischen Islamisten und Säkularen. Unter dem immensen Veränderungsdruck und der Offenheit der politischen Situation brachen die Gesellschaften auseinander. Es gibt wenig, was sie - drei Jahre nach dem gemeinsamen politischen Aufbruch - noch miteinander verbindet. Das birgt große Gefahren für die ganze Region und für die Nachbarn in Europa. Tunesien liegt direkt vor der europäischen Haustür. Und Ägypten ist ein Schlüsselstaat im Nahen und Mittleren Osten. Die Richtung, die beide Länder einschlagen, wird die politische Zukunft einer ganzen, strategisch wichtigen Region bestimmen.

Dennoch reagiert der Rest der Welt verhalten auf das drohende Scheitern des demokratischen Aufbruchs. Desinteressiert? Vielleicht. Doch vor allem: hilflos.

Nur zur Erinnerung: Ende Juli wurden achtzig Anhänger der Muslimbrüder durch das ägyptische Militär getötet. Eine klare Antwort des Westens auf dieses Blutbad war nicht zu vernehmen. Und der Westen ignoriert die rasante Ausbreitung des religiösen Extremismus in den Ländern: Aus den ehemaligen Bürgerwehren zum Schutz der Revolution wurden gewaltbereite jugendliche Religionswächter. Sie setzen islamische Kleiderordnungen und Lebensweise durch, schüchtern die Bevölkerung ein. Der Rückhalt gewaltbereiter Salafisten wächst in beiden Ländern für alle sichtbar an. In Tunesien wurden zwei säkulare Politiker in diesem Jahr mutmaßlich von islamistischen Extremisten ermordet.

Gute Diktaturen gibt es nicht

Das aktuelle Chaos in den Umbruchstaaten verleitet dazu, nach der "harten" Hand zu rufen. Manch einer in Tunis oder Kairo sagt heute, die Lage unter den alten Diktatoren sei besser gewesen als die Anarchie heute. Als in Ägypten die Generäle im Namen der Stabilität die Unruhen unterdrückten, den Präsidenten inhaftierten und vor allem sich selbst wieder an die Macht brachten, haben das vielleicht deshalb nur wenige beim Namen genannt: Das war ein Putsch!

Doch es gibt keine gute Diktatur! Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Autokraten und Despoten für mehr Sicherheit und Ordnung sorgen können. Sie schaffen bestenfalls eine Scheinsicherheit auf Zeit. Genau das hat die Arabellion ja gezeigt. Das Chaos von heute ist das Erbe der Diktatur. Diktaturen verhindern die Teilhabe und das Wachsen einer handlungsfähigen Zivilgesellschaft. Diktaturen ersticken Streitfragen, Opposition und Widerspruch. Damit verhindern sie den schwierigen Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Die werden nur unter dem Mantel des Zwangs begraben. Bis sich der Druck gewaltsam entlädt.

Verloren hat auch der Westen

Es zeigt sich: Einen Diktator aus dem Amt zu jagen, ist das eine - Demokratie aufzubauen, das andere. Und so bitter es ist: Es sieht nicht so aus, als würde das auf absehbare Zeit gelingen. Demokratie ist die ständige Suche nach dem Kompromiss, dem gemeinsamen Nenner. Sie erfordert verlässliche Institutionen, klare Spielregeln, Toleranz und ist ein ständiges Verhandeln. In Ägypten wie in Tunesien scheint man davon weiter entfernt zu sein als zu Beginn der Arabellion. Der Graben zwischen Säkularen und Islamisten ist tiefer denn je.

Verloren hat fürs erste auch der Westen: Die USA, Frankreich, Europa hatten die alten Diktaturen schließlich über Jahrzehnte gestützt. Als Vertraute und Berater gelten jetzt die arabischen Nachbarn, obwohl die sich massiv in das Chaos einmischen und ihre eigenen Interessen verfolgen. Europa wird sich auf einen andauernden politischen Schwelbrand in der Region einstellen müssen. Es wird diesen ungeordneten Umbau nur eingeschränkt begleiten können. Doch einen Fehler sollte der Westen nie wieder machen: an "gute Diktatoren" zu glauben und ihnen den Rücken zu stärken.