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Politik

Die Balkanisierung Europas?

Dragoslav Dedović - Foto: DW
Dragoslav Dedović
12. Februar 2017

Nationalistische Umtriebe, Wirtschaftskrise, Streit! Sprechen wir über Jugoslawien Anfang der 1990er-Jahre? Nein, von der EU 25 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht. Parallelen drängen sich auf, meint Dragoslav Dedović.

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Griechenland Zerissene Europa-Flagge im Hafen von Vathy auf der Insel Samos
Bild: picture-alliance/dpa/C. Charisius

Die Europäische Gemeinschaft wurde im Februar 1992 in der hübschen niederländischen Stadt Maastricht in "Europäische Union" umgetauft. Dieser Staatenbund ist für seine westeuropäischen Gründungstaaten längst eine Selbstverständlichkeit. Eine politische, wirtschaftliche und historische Erfolgsgeschichte. Doch die allzu gern verdrängten Schattenseiten dieses Erfolgs gefährden zunehmend seine Zukunft.

Offenbar war man in den ersten Jahren nach Maastricht außerstande, die Geburtsfehler der EU zu erkennen. Unbehandelt könnten sie heute jedoch das Ende der Union herbeiführen. Zu den Erbsünden der damals entstehenden EU gehörte ihr Unvermögen, die seinerzeitige Jugoslawienkrise richtig einzuschätzen, mäßigend auf die Konfliktparteien einzuwirken und den bewaffneten Konflikt einzudämmen. Bereits die frühere Europäische Gemeinschaft hatte in Jugoslawien die von ihr beschworenen Werte nur inkonsequent und unglaubwürdig vertreten.

Ökonomischer Riese und politischer Zwerg

In Maastricht übertrug Deutschland nicht nur seine Wirtschaftskraft, sondern auch eine eigene historisch bedingte Schwäche auf die EU-Ebene. Der neu verfasste Staatenbund war - genau wie Westdeutschland im Kalten Krieg - zwar ein Wirtschaftsriese, blieb zugleich aber ein außenpolitischer Zwerg.

Dieser Zwerg ist im vergangenen Vierteljahrhundert kaum gewachsen. Gelegentliche Therapien mit außenpolitischen und sicherheitspolitischen Wachstumshormonen haben völlig versagt. Und so gibt es bis heute beispielsweise keine konsequente außenpolitische Linie auf dem Balkan. Dabei wackelt der Westbalkan schon wieder.

Intern entzweit, nach außen schwach

Es fehlt der EU auch an Konsensfähigkeit in internen Fragen. Die Härte Deutschlands gegenüber den südeuropäischen Staaten in der Finanzkrise und andererseits die Großzügigkeit gegenüber den Flüchtlingen mögen der aktuellen finanziellen und humanitären Gefühlslage der Deutschen entsprechen. Für den Zusammenhalt innerhalb der EU war beides Gift. Zumal alle diese Entscheidungen unter dem Druck der Ereignisse erzwungen waren, sie jeweils am Ende einer lange Fehlentwicklung standen, in der man nicht gehandelt hatte, als es noch Alternativen gab.

Dragoslav Dedović (DW)
Dragoslav Dedović leitet die Serbische Redaktion

Bei der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone drückten alle Mitglieder des europäischen Währungsclubs beide Augen zu. Ebenso die gesamte EU bei der Aufnahme Bulgariens, Rumäniens und Kroatiens in die Union.

Die Dublin-Regelung - Flüchtlinge müssen dort bleiben, wo sie zum ersten Mal den EU-Boden betreten - schützte vor allem Deutschland und die reichen Länder des Nordens und überforderte stattdessen die Mittelmeerländer. Das beharrliche Ignorieren der sich im Süden anbahnenden Flüchtlingsnot machte aus dem Mittelmeer ein Massengrab und aus der syrischen Tragödie ein gesamteuropäisches Flüchtlingsdrama.

Die militärische Logik der US-Amerikaner, die nicht immer im EU-Interesse war, führte zu einer Serie von Interventionen. Ihre Folgen waren nicht nur unvorstellbare Zerstörungen und der Zusammenbruch ganzer Staaten in der Nachbarschaft der EU, sondern auch eine Entsolidarisierung innerhalb der EU. Solidarität mit schwächeren Mitgliedsländern oder mit Flüchtlingen scheinen vielerorts Fremdwörter geworden zu sein. Die Folgen sind der Brexit in London, Kaczyński in Warschau, Orbàn in Budapest. Putin, Erdogan und Trump ante portas - das macht die Sache für Europa nicht gerade einfacher.

Die EU vor dem Zerfall?

Der Ist-Zustand der EU erinnert immer stärker an Jugoslawien vor dem Zerfall. Die Katastrophe im einstigen Tito-Land lässt sich lapidar auf die Formel bringen: Wirtschaftskrise sowie die permanente Reduktion der Gesellschaften auf reine Abstammungsgemeinschaften. Alle politischen und wirtschaftlichen Probleme wurden in kürzester Zeit zu ethnischen Konflikten umgedeutet.

Damals schien das in Augen westlicher Beobachter wie ein Atavismus, eine bedauerliche Abweichung vom Hauptstrom des geschichtlichen Fortschritts. Leider muss man 25 Jahre später feststellen: Der Zerfall Jugoslawiens stand offenbar am Anfang und nicht am Ende einer Entwicklung.

Die liberalen Eliten scheinen die Ängste der Menschen auch in den westlichen Gesellschaften grandios unterschätzt zu haben. Heute ist Nationalismus selbst in Hauptstädten Westeuropas wieder salonfähig. In Wien geschah es fast. Amsterdam und Paris sind vielleicht bald an der Reihe. Dabei ist bezeichnend, dass die westlichen Sieger über den Nationalsozialismus bis heute offenbar weniger gesellschaftliche Antikörper gegen modern getarnte völkische Ideologien entwickelt haben, als Deutschland, das vor mehr als 70 Jahren besiegte Herkunftsland des Übels.

Und was nun?

Eigentlich ist die rettende Formel relativ simpel: eine geschlossene Wertegemeinschaft nach außen und Solidarität nach innen. Lieber rechtzeitig investieren, als später intervenieren. Das kostet perspektivisch deutlich weniger. Vorausgesetzt, man tut es rechtzeitig. Ob man die 2005 gescheiterte EU-Verfassung wieder entdeckt oder ein Modell Kerneuropa in Betracht zieht, ist dabei eher nebensächlich. Entscheidend ist vielmehr: Entweder wird man außenpolitische Handlungsfähigkeit, Solidarität untereinander sowie die Verständigung auf eine gemeinsame, solide Haushaltsführung im Konsens erreichen, oder wird die EU in ihrer heutigen Form untergehen. Die Uhr tickt.

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