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Der politische Preis ist zu hoch

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
5. Oktober 2015

Die EU sucht die Hilfe der Türkei, um den Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak zu stoppen. Aber die Zugeständnisse, die Präsident Erdogan dafür verlangt, sind nicht tragbar, meint Barbara Wesel.

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Flüchtlinge Schwimmwesten Foto: REUTERS/Yannis Behrakis
Bild: Reuters/Yannis Behrakis

Die Europäer sind selbst schuld an der schwierigen politischen Lage, in der sie jetzt wegen der Flüchtlingskrise stecken. Das ist eine der Botschaften von Recep Erdogan an die EU. Zu Recht hält der türkische Präsident ihr vor, sie habe so lange das Drama der vor dem Krieg flüchtenden Syrer ignoriert, wie sie glaubte, davon nicht betroffen zu sein. Dabei haben rund vier Millionen Flüchtlinge schon längst in den Nachbarländern Schutz gefunden, rund die Hälfte davon in der Türkei. Und der türkische Präsident hat auch Recht, wenn er darauf hinweist, dass in Brüssel erst die Panik ausbrach, als sich immer mehr Menschen auf den Weg nach Europa machten. Jetzt sitzt Erdogan am längeren Hebel und versucht die EU nach allen Regeln der Kunst zu erpressen.

Wirft Europa alle Grundsätze über Bord?

Das Treffen in Brüssel zwischen den Chefs der EU und dem Machthaber aus Ankara war ein trauriges Schauspiel. Sie fielen fast über ihre eigenen Füße, um ihn zu hofieren und ihm Honig um den Mund zu schmieren. Vor allem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beschwor bewegt seine enge Freundschaft mit Erdogan und lobte ihn als großen Reformer der Türkei. Natürlich gehören Höflichkeit, selbst ein gewisses Maß an Verlogenheit zur Diplomatie. Aber auf einer solchen Schleimspur kann man nur ausrutschen. Wie ist es möglich, dass sich der zunehmend autokratische türkische Präsident, der seit Jahren wegen Menschenrechtsverletzungen und seiner antidemokratischen Politik kritisiert wird, über Nacht in den wichtigsten Partner der Europäer verwandelt? Der Grund sind unsere eigenen Versäumnisse und die Angst vor innenpolitischer Instabilität. Dabei tobt der Krieg in Syrien seit vier Jahren, die Folgen waren für alle längst zu erkennen.

Europa kann sich nicht mit Erdogan gemein machen

Jedenfalls hat Erdogan in Brüssel keinen Zweifel daran gelassen, dass er den höchstmöglichen Preis für seine Kooperation in der Flüchtlingsfrage ansetzt: Die EU soll dulden, dass er sowohl im Irak als auch in Syrien seinen Kampf gegen die Kurden wieder aufnimmt. Er ging soweit, deren Organisationen mit der islamistischen Terrortruppe des IS gleichzusetzen und zum gemeinsamen Kampf gegen alle aufzurufen, die er Terroristen nennt. Dabei hat gerade Erdogan den sogenannten "Islamischen Staat" zunächst unterstützt, weil er auf einen doppelten Erfolg hoffte: Den Fall von Assad in Syrien und die erneute Niederschlagung der Kurden. Jetzt hat sich das Blatt gewendet, und der türkische Präsident bekennt sich zum Kampf gegen IS und will gleichzeitig die Deckung der Europäer für seinen eigenen Krieg gegen die Kurden der gesamten Region. Das sind übrigens die gleichen Kurden, die im Kampf um Kobane in den Augen der Weltgemeinschaft noch die Guten waren und internationale Waffenhilfe bekamen.

Realpolitik heißt, Werte über Bord zu werfen. Aber die Europäer müssen hier genau hinschauen, wie billig sie ihre Glaubwürdigkeit verschleudern wollen. Die meisten Maßnahmen, um die jetzt gestritten wird, sind sowieso politische Augenwischerei: Etwa der Kampf gegen Schlepper in der Türkei - er wird nie Erfolg haben, weil viel zu viel Geld im Spiel ist. Oder die Idee, in türkischen Flüchtlingslagern Asylanträge für die EU entgegenzunehmen - das ist faktisch und rechtlich kaum umsetzbar. Und wie will man alle Syrer dazu zwingen, in der Türkei zu bleiben und dort in Lagern auf ein Ende des Krieges zu warten? Und wieso sollte Erdogan dem zustimmen, der doch sowieso weitere 500.000 Flüchtlinge nach Europa abgeben will?

Barbara Wesel Studio Brüssel Foto: DW
Barbara Wesel, DW-Korrespondentin in BrüsselBild: DW/G. Matthes

Schluss mit dem Krisengeheul

Die Türkei kann die Flüchtlingsproblematik nicht für uns lösen, wir müssen das selber tun. Und es ist absolut unmöglich und undenkbar, Erdogan deswegen Zugeständnisse zu machen, die wir nicht verantworten können. Es ist auch nicht im Sinne Europas, ihn auf seinem Weg zum großen Diktator zu unterstützen. Und wir können uns unter keinen Umständen zu seinen Handlangern machen, wenn er einen Bürgerkrieg im Kurdengebiet anzetteln will.

Abgesehen davon wäre es vielleicht hilfreich, mit dem Krisengeheul aufzuhören. Weltweit sind 50 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen. Nur ein verschwindend kleiner Teil von ihnen ist bisher nach Europa gekommen. Wir werden nicht untergehen, selbst wenn sich eine weitere Million Menschen aus Syrien und dem Irak zu uns auf den Weg macht. Unser Kontinent hat eine halbe Milliarde Einwohner und ist damit noch lange nicht überfordert. Es ist eine Frage des politischen Willens, Menschlichkeit und gleichzeitig Sinn für das Machbare zu zeigen. Faule Geschäfte mit der Regierung in Ankara aber sollten dabei nicht auf dem Plan stehen.

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