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Kommentar: Demokratie ist, bei einer Wahl auch mal zuhause zu bleiben

Bernd Riegert, Brüssel14. Juni 2004

Zuwachs für die Europagegner, Abstrafung der nationalen Regierungen. Klar ist bei der Europawahl geworden: Mit einer Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent ist das Interesse der Wähler an Europa denkbar gering.

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Der Irak-Krieg, Angst vor Terror und einschneidende Sozialreformen in den Mitgliedsstaaten, nicht aber europäische Themen wie die Verfassung, Agrarsubventionen oder Regionalförderung haben die Wahlentscheidung bestimmt. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament handelt es sich im Grunde um 25 nationale Wahlen, in den meisten Staaten mit länger amtierenden Regierungen sogar um ausgesprochene Protestwahlen, deren Quersumme sich bei der Sitzverteilung in Straßburg und Brüssel widerspiegelt.

Wahlschlappe für Regierungschefs

Britanniens Premier, Frankreichs Präsident, der polnische Ministerpräsident und der deutsche Bundeskanzler wurden aus unterschiedlichsten Gründen abgestraft. In Tschechien, Polen und Großbritannien feiern die Europagegner bedrückende Erfolge. Die niedrige Wahlbeteiligung stärkt die extremen und kleinen Parteien, die ihre Wähler in der Regel besser mobilisieren können. Es gibt kein europäisches Wahlvolk, keine einheitlichen europäischen Wahllisten und kein einheitliches europäisches Wahlrecht.

Da darf es eigentlich nicht wundern, dass die Wähler sich im Großen und Ganzen nicht um das ferne Brüssel sorgen, sondern um die Probleme, die zuhause eine Rolle spielen. Die Politiker, die jetzt lautstark die niedrige Wahlbeteiligung beklagen, haben mit ihren national zentrierten Wahlkämpfen dazu beigetragen, dass das Interesse an Europawahlen seit ihrem Beginn vor 25 Jahren stetig sinkt.

Extrem niedrige Wahlbeteiligung in Osteuropa

Besonders bitter ist die extrem niedrige Wahlbeteiligung in manchen neuen Ländern in Osteuropa. Hier haben die politischen Eliten völlig versäumt, ihren Bürgern klar zu machen, dass auch Europa ein abstimmungswürdiges Thema ist, das sie eigentlich alle angeht.

Die konservative Fraktion wird erneut die größte Gruppe im Parlament sein, gefolgt von den Sozialdemokraten. Abspaltung von Euroskeptikern aus der Konservativen Fraktion und eine eigene Fraktion der Europafeinde scheinen möglich. Eine Mehrheit hat aber keine der politischen Gruppen. Vielmehr arbeiten die großen Fraktionen in der Regel zusammen. Das Parlament trägt ja keine europäische Regierung.

Wähler ohne Interesse

Vielleicht spüren die europäischen Wähler, dass sie nicht aufgerufen waren, eine machtvolle Vertretung im Sinne eines klassischen nationalen Parlamentes zu wählen. Denn egal wie die politische Zusammensetzung des Europaparlaments auch ausfällt, viel ändern wird sich dadurch die Politik, die von der Europäischen Union in Brüssel gemacht wird, nicht.

Die Macht liegt nach wie vor beim Ministerrat, also der Vertretung der Nationalstaaten, nicht bei der Vertretung der Bürger, dem Parlament. Auch aus dieser Erkenntnis mag der Unwille rühren, sich zu den Urnen zu bequemen.

Auch in USA ist man niedrige Wählerzahl gewohnt

Doch bevor das Wehklagen über einen Mangel an demokratischem Selbstverständnis zu laut wird, ein Blick über den Atlantik. Denn in den Vereinigten Staaten von Amerika, der demokratischen Supermacht, schwankt die Wahlbeteiligung seit Ende der 1970er Jahre um die 50 Prozent-Marke. Niemand käme deshalb auf die Idee, dem US-Kongress oder dem Präsidenten die Legitimität abzusprechen. Es ist immer noch besser, eine europäische Bürgervertretung zu haben, die nur von einer Minderheit gewählt wird, als gar kein Korrektiv für die Euro(pa-Büro)kraten zu haben.