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Politik

Eine überfällige Entscheidung

8. November 2017

Nicht eindeutig Frau oder Mann zu sein, ist für die Betroffenen ein elementares Problem. Da spielt es gar keine Rolle, um wieviele Menschen es geht. Die Politik hätte längst schon handeln müssen, meint Christoph Strack.

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Symbolbild drittes Geschlecht
Bild: Colurbox

Gut 180 Seiten umfasst die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats mit dem knappen Titel "Intersexualität". Und sie ist bereits auf ihren ersten Seiten sehr eindrücklich. "Aus dem Leben Betroffener" lautet der Titel. Ein "Fallbeispiel" berichtet. "Ich bin 1965 mit einem schweren Herzfehler und uneindeutigem Genitale geboren. Aufgrund des Herzfehlers wurde ich ein paar Tage nach meiner Geburt  notgetauft, da die Mediziner davon ausgingen, dass ich nicht lange überleben würde…" Die gut dreiseitige, erschütternde Schilderung schließt mit den Worten "Meine Identität, meine Würde wurde mir genommen. Nun mache ich mich auf, um sie mir wieder zurückzuerobern."

Eine Handlungsempfehlung liegt schon lange vor

Bereits 2010 und 2011 befasste sich der Ethikrat umfassend mit der Situation intersexueller Menschen und suchte - online wie bei einer umfassenden Veranstaltung - den Austausch mit Betroffenen. Diese Erarbeitung einer vertieften Stellungnahme erfolgte "im Auftrag der Bundesregierung". Im Februar 2012 - also vor gut fünfeinhalb Jahren - wurde das Dokument veröffentlicht und der Bundesregierung zugeleitet. Begleitet von den üblichen Worten des Wohlwollens der Fachpolitiker.

Nun, Ende 2017, urteilt das Bundesverfassungsgericht. Und man muss lediglich zwei Kernsätze aus dem Papier des Ethikrats herausgreifen, um zu zeigen, dass Bundesregierungen seit 2012 hätten handeln können, ja müssen: "Der Ethikrat", heißt es da, " ist der Auffassung, dass ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Konstitution weder dem Geschlecht 'weiblich' noch 'männlich' zuordnen können, rechtlich gezwungen werden, sich im Personenstandsregister einer dieser Kategorien zuzuordnen. Es sollte daher geregelt werden, dass von diesen Personen neben der Eintragung als 'weiblich' oder 'männlich' auch 'anderes' gewählt werden kann bzw. dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich selbst entschieden hat." Aussagen, die übrigens von den kirchlichen wie säkularen Ethikern im Gremium mitgetragen wurden. Bis heute erinnern sie die Schilderung des Leids der Betroffenen.

Die obersten deutschen Richter greifen dies nun exakt auf. Das wirkt jetzt spektakulär und findet international Aufmerksamkeit. Das ist gut so. Aber diese Aufmerksamkeit überrascht nicht. Denn die Karlsruher Richter genießen fast weltweit Wertschätzung, wie ihre Reisen zu Fachgesprächen mit Kollegen oder auch die Besuche anderer hoher Gerichte in Karlsruhe zeigen.

Eine beschämende Nichtbeachtung

Nur - nach der so deutlichen Empfehlung des Ethikrats, der ja vor allem für die Politik arbeitet, hätte der Gesetzgeber längst entsprechende Konsequenzen ziehen können. Das konkrete Beispiel zeigt in aller Klarheit, welchen Stellenwert dieses Gremium mit seiner oft stillen, aber in die Tiefe gehenden Arbeit für die Politik, für Parlament und Regierung, hat. Insofern ist diese offensichtliche Nichtbeachtung mehr als beschämend.

Dabei gilt die Notwendigkeit zur Unterscheidung: Die Intersexualität ist ein medizinisch klar umrissenes Phänomen. Dabei ist es in der Wahrnehmung der Würde der Betroffenen unerheblich, ob es sich um ein paar hundert oder zigtausend Fälle im Jahr handelt. Die Fall-Schilderung des Betroffenen zeigt das. Intersexualität zeigt sich klarer und ist anders zu bewerten als die Transsexualität, mit der - verkürzt gesagt - Männer gemeint sind, die in Frauenkörpern leben, und Frauen, die in Männerkörpern leben.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat nun gesprochen, und es ist gut, dass er so klar - mit sieben Stimmen gegen eine - geurteilt hat. Nun ist die Politik gehörig unter Druck und eilt dem Ethikrat und dem Gericht nach. Zu Beginn der parlamentarischen Arbeit der neuen Legislaturperiode (wann auch immer diese tatsächlich beginnt) ist der Gesetzgeber beauftragt, sich mal wieder einer ethischen Frage der menschlichen Existenz zu widmen. Das ist ein guter Auftrag.

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