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Überall nationale Egoismen

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Felix Steiner
16. September 2015

Tausende Flüchtlinge bewegen sich quer durch Europa. Die EU hat kein Konzept, ihre Mitglieder sind zerstritten. Eine Entwicklung, die Europa wohl erst dann wachrüttelt, wenn die Wirtschaft leidet, meint Felix Steiner.

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Flüchtlinge warten am Grenzübergang Röszke-Horgos (Foto: Reuters)
Der Grenzübergang Röszke-Horgos soll für die nächsten 30 Tage geschlossen bleibenBild: Reuters/M. Djurica

Was wir heute als Europäische Union kennen, hat eine ganze Reihe Vorläufer unterschiedlichsten Namens. Einer davon war die EWG. Das Kürzel EWG stand jedoch nicht für "Europäische Wertegemeinschaft", wie mancher Philantrop heute glauben könnte. Sondern das W im Namen rückte das in den Mittelpunkt, um was es von Anfang an ging und bis heute geht: Wirtschaft. Ökonomische Interessen.

Ausgangspunkt der europäischen Einigung war der Wunsch der Nachbarn Deutschlands, die Kontrolle über den wirtschaftlichen Wiederaufbau der Bundesrepublik zu behalten. Verständlich - keine zehn Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus. Aus dieser Zeit stammt die supranationale Organisationsform der EU: Was zuvor Verantwortung der Nationalstaaten war, wird an eine über den Mitgliedsstaaten stehende Behörde abgegeben - die heutige EU-Kommission.

Hoffnung der Gründerväter hat sich nicht erfüllt

Die Optimisten hofften damals, dass ein Erfolg dieses Modells automatisch dafür sorgen werde, dass die Nationalstaaten immer mehr Politikbereiche an die übernationalen Institutionen in Brüssel abgeben würden. Doch weit gefehlt.

Denn das eigentliche Kraftzentrum der EU ist eben nicht die Kommission, sondern der Rat - die Versammlungen der nationalen Fachminister oder - bei ganz wichtigen Themen - der Staats- und Regierungschefs. In diesen Runden wird mal hart gerungen und mal banal gefeilscht. Hier geht es nicht um "gemeinsame Werte" Europas, sondern um nationale Vorteile, die jedes Land für sich herausholen will. So und nicht anders funktioniert die EU seit Jahrzehnten. Mit allerdings riesigem Erfolg: Westeuropa kennt seit 70 Jahren keine Kriege mehr und es wurde eine Zone unvergleichlichen Wohlstands geschaffen.

Felix Steiner (Foto: DW)
DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Gemeinsames Politikversagen

Natürlich hat Deutschland viele Kompromisse ermöglicht, indem es oft mehr bezahlt hat, als die anderen. Letztlich war aber auch das stets nur nationaler Egoismus: Weil die exportstarke deutsche Wirtschaft auf ein funktionierendes Europa existenziell angewiesen ist, ein Scheitern Europas deutlich teurer wäre.

Bis heute wacht jedes Mitgliedsland sorgsam darüber, nicht zu viele Kompetenzen an Brüssel abzugeben. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU? Nichts verdient diesen Namen wirklich. Und genau deswegen ist die gegenwärtige Flüchtlingskrise weder Zufall noch Schicksal, sondern Ausdruck eines gemeinsamen Politikversagens.

Eine Krise mit Ansage

Natürlich hätte die EU einen enormen Teil der gegenwärtigen Fluchtbewegungen verhindern können. In dem man zum Beispiel den Hilferufen des UNHCR für die Flüchtlingslager in Jordanien, dem Libanon und der Türkei rechtzeitig nachgekommen wäre. Dort gibt es weder Schulausbildung für die Kinder und inzwischen nicht einmal mehr ausreichend Nahrung. Wer kann sich da wundern, wenn sich seit Wochen Tausende auf den Weg machen? Aber das hätte ja Geld gekostet. Was jetzt passiert, kostet ein Vielfaches davon! Und viele Flüchtlinge das Leben.

Und als habe die EU noch nicht begriffen, was sich gerade abspielt, macht jeder weiterhin sein nationales Ding: Griechenland und Italien winken einfach weiter durch, Kroatien jetzt auch, Ungarn baut Zäune, Osteuropa schaut weg und Angela Merkel lädt ohne Absprache mit irgendwem alle Syrer nach Deutschland ein, will aber trotzdem die Lasten teilen und muss schon nach einer Woche zumindest teilweise kapitulieren. Weil die Aufgabe jedes Maß sprengt. Währenddessen können sich in Brüssel die Minister nicht einmal auf die Verteilung von 160.000 Menschen einigen, erst im Oktober will man weiter verhandeln. Dabei sind weitaus mehr längst hier angekommen, Tausende sind noch unterwegs - ohne dass irgendjemand darüber die Kontrolle hätte, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie gehen. Politik als Gestaltungsmacht fällt aus in diesen Tagen in Europa.

Schengen stirbt als nächstes

Wo soll das enden? Niemand weiß das, denn niemand hat einen Plan oder ein Konzept. Dublin ist schon lange tot. Schengen wird als nächstes sterben. Denn wer will bei offenen Grenzen Flüchtlinge in Ländern halten, in denen sie nicht bleiben wollen? Geht damit ein Grundwert Europas verloren? Das freie Reisen ist zwar schön, aber ein angenehmes Leben war auch zuvor schon möglich. Durch neue Grenzkontrollen wird sich vor allem der Warentransport dramatisch verteuern. Wenn eine ökonomische Kennziffer in Gefahr ist - vielleicht bewegt sich ja dann endlich etwas in der EU.

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