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Klassenkampf im Mini-Format

27. Juli 2011

"Kreuzberg lebt!" – diese und ähnliche Zeilen sind auf den Modellen von Matthias Schmeier zu finden. Der 46jährige Geschichtslehrer baut Revolutionen der Weltgeschichte im Modellbauformat nach.

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Matthias Schmeier in seinem heimischen Garten mit seinem ersten selbst gebauten Wasserwerfer Foto: Susanne Luerweg
Modellbauer Matthias SchmeierBild: DW

Alles fing Mitte der 80er Jahre mit einem Wasserwerfer an. Ein Wasserwerfer, der genauso aussah wie jene, die die Polizei gegen die Hausbesetzer in der Hamburger Hafenstraße verwendete. Matthias Schmeier kannte die Geräte gut, denn er war vor Ort. Damals war er Mitte zwanzig und in der linken Szene aktiv. Er besetzte Häuser, protestierte gegen den Bau der Startbahn West und fuhr zur ersten Mai-Demo nach Berlin Kreuzberg. Und er fing an, sein politisches Leben in Form von Modellbauten nachzuahmen. Er schuf sogenannte Dioramen.

Bürgerkrieg und Revolution

Die Werke von Matthias Schmeier sind vom klassischen Modellbau Lichtjahre entfernt. Bei ihm wird getobt, geschrieen und gestorben. Und wenn er beispielsweise den spanischen Bürgerkrieg oder den Kampf um Sarajewo in monatelanger Kleinarbeit im Miniaturformat wieder aufleben lässt, dann fließen neben viel Herzblut immer auch sehr persönliche Details in die Arbeiten mit ein. "In meinen Dioramen sind immer so kleine Provokationen drin. Man muss sehr genau hingucken. Das Diorama über Sarajewo ist eigentlich meine alte Wohnung in Köln Buchforst, und auf meinem Balkon steht eine Heckenschützin, die dann runter schießt, wie das in Sarajewo auch war", erzählt der schlanke, groß gewachsene Mann lachend.

Faszination Weltgeschichte und Klassenkampf

Matthias Schmeier neben seinem Diorama,das Szenen aus dem spanischen Bürgerkrieg zeigt Foto: Susanne Luerweg Aufnahmedatum: 21.7.2011 Ort: Köln
Matthias Schmeier in seinem Bastel-KellerBild: DW

Wer den schlanken, sportlichen Mittvierziger sieht, kann sich seine revolutionäre Vergangenheit kaum vorstellen. Er selbst schüttelt den Kopf und räumt ein, dass er sich vor zwanzig Jahren nicht vorstellen konnte, ein bürgerliches Leben zu führen. Nach seiner aktiven Klassenkämpferzeit absolvierte er eine Lehre als Buchhändler. In einem linken Buchladen in Köln, versteht sich. Ein paar Jahre verkaufte er Bücher, machte parallel dazu sein Abitur nach und studierte Politik und Volkswirtschaftslehre. Er wollte wissen, warum Revolutionen scheitern, wie stark die Wirtschaft das Weltgeschehen beeinflusst. Inzwischen arbeitet Mattias Schmeier als Geschichtslehrer und lebt mit seiner Frau, einer katholischen Theologin, und zwei Kindern am Stadtrand von Köln. Jeden Freitagabend nimmt er sich eine Auszeit vom Familienleben und geht in seinen Keller, um den Klassenkampf der letzten Jahrhunderte nachzubauen.

Zahnarztbesteck und Gummiköpfe

In der Regel arbeitet er an zwei bis drei Dioramen gleichzeitig. Jetzt hat er angefangen, die Münchener Räterepublik nachzubauen. Seine Werke bevölkern inzwischen das ganze Haus, den Keller und die Garage. Sein Hobbyraum wirkt wie eine Mischung aus Bastler-Heiligtum und Frankenstein-Kammer. Halbfertige Autos liegen genauso herum, wie jede Menge Beine, Arme und Köpfe. Im klassischen Modellbau kann man nur Männer kaufen, also muss Matthias Schmeier alle anderen Figuren - Frauen und Kinder - selbst bauen. Seine Werkzeuge hat ihm ein befreundeter Zahnarzt geschenkt. Ausrangierte Bohrer und andere Zahnarztutensilien hängen fein säuberlich an der Wand. Ein Regal ist voll gestopft mit politischer Literatur und Bildbänden ferner Länder. Früher ist er viel gereist. Heute ist er ruhiger geworden. Das Weltgeschehen beobachtet er dennoch genau. Stuttgart 21, die arabische Revolution. Das interessiert ihn.

Erste Ausstellungen

Bislang ist es schwer für ihn, seine Sachen auszustellen. Doch kürzlich waren einige seiner Werke ihm Rahmen des Popdesign-Festivals in Köln zu sehen. Und demnächst soll er Arbeiten für eine Ausstellung zum Thema "30 Jahre Häuserkampf" nach Berlin schicken. Das freut ihn, und er weiß auch schon, welches Diorama er den Berlinern auf jeden Fall zusenden wird. Eines über den 1. Mai in Kreuzberg mit jeder Menge liebevoll gestalteter Polizeiautos, Demonstranten und dem obligatorischen Wasserwerfer. Hin und wieder interessieren sich inzwischen auch Käufer für seine Arbeiten. Aber Matthias Schmeier tut sich schwer mit dem Verkauf. Die Materialkosten sind hoch, die Arbeitsstunden nicht zu zählen, und er hängt doch sehr an jedem einzelnen Werk.

Autorin: Susanne Luerweg

Redaktion: Gudrun Stegen