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Kiossev: "Geduld der Menschen ist am Ende"

Alexandra Scherle 25. Juli 2013

Der Kulturwissenschaftler Alexander Kiossev ging selbst gegen Bulgariens Regierung auf die Straße. Im DW-Interview erklärt er, was die Demonstranten verbindet und welche Folgen die neue Eskalation der Proteste hat.

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Porträt des bulgarischen Kulturwissenschaftlers Alexander Kiossev (Foto: Kalin Serapionov)
Bild: Kalin Serapionov

Deutsche Welle: Die Demonstranten in Bulgarien haben wochenlang betont, ihre Proteste seien gewaltlos. Nun kam es zum ersten Mal zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei, mindestens 18 Menschen wurden verletzt. Was steckt dahinter?

Alexander Kiossev: Die Geduld der Menschen ist am Ende. Sie sind wirklich an ihre Grenzen gestoßen und können die aktuelle Lage nicht mehr ertragen. Überhaupt haben alle Proteste mit etwas, was ich "moralische Geduld" nenne, zu tun. Und diese Geduld wurde mehrmals von dieser Regierung, aber auch von der vorherigen überstrapaziert.

Was sind die Hintergründe der aktuellen Proteste in Bulgarien?

Schon im Februar gab es eine erste Welle von Protesten, ausgelöst durch die erhöhten Preise für Elektrizität. Vor allem arme Leute gingen auf die Straße - nicht nur in der Hauptstadt Sofia, sondern auch in der Provinz. Dies führte zum Sturz der damaligen konservativen Regierung unter Bojko Borissov (GERB-Partei). Im Mai kam es zu vorgezogenen Wahlen, deren Ergebnis aber ungünstig war, weil praktisch keine einzige Partei einen echten Vorsprung hatte. Die neue Regierung (Anm. d. Red. : bestehend aus der Sozialistischen Partei und der bulgarisch-türkischen Partei DPS) hat sich schon durch ihre ersten Personalentscheidungen kompromittiert: Besonders die Ernennung des Medienunternehmers Deljan Peewski, der praktisch die freie Presse in Bulgarien monopolisiert hatte, zum neuen Leiter der Sicherheitsbehörde DANS erzürnte die Bürger. Sie gingen auf die Straße - nicht nur, um Peewski loszuwerden, sondern um die ganze Regierung zu stürzen. Die Proteste dauern nun schon mehr als 40 Tage an. Doch die Regierung verhält sich, als sei nichts passiert und wartet darauf, dass sich die Demonstrationen von selbst auflösen. Das hat die Wut der Bürger weiter gesteigert, bis sie das Parlament blockiert und so verhindert haben, dass Abgeordnete das Gebäude verlassen. Und nach einer mehrstündigen Blockade hat die Polizei eingegriffen - so ist es zur Gewalt gekommen.

Sie haben auch selbst an den Protesten teilgenommen: Was war Ihre Motivation?

Ich konnte die Unverschämtheit der Politik nicht mehr ertragen. Die regierende Sozialistische Partei - die Partei der ehemaligen Kommunisten - ist sehr stark mit der organisierten Kriminalität in Bulgarien verbunden und von gewissen Oligarchen abhängig. Deswegen kann sie praktisch keine autonome Politik betreiben und macht, was irgendwelche unbekannten Subjekte im Hintergrund ihr diktieren. Sie hat die Verbindung zu den Wählern gänzlich verloren.

Was haben Sie bei diesen Protesten erlebt?

Ich war zu Beginn da und hatte sogar meinen achtjährigen Sohn mitgebracht - und zunächst war es wie eine Performance. Es gab viel kreative Energie, die Leute haben sich alles mögliche ausgedacht. Es war wie ein Festival und alle haben sich sehr gefreut, dass sie zusammen auf der Straße sind und diese moralische Solidarität erleben. Inzwischen haben sich Provokateure unter die Protestierenden gemischt und verschiedene Gruppen und Parteien haben versucht, die Proteste irgendwie unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch das ist nicht gelungen. Die Demonstranten sind die jungen und intelligenten Bürger Bulgariens. Falls ihre Proteste nicht erfolgreich sind, glaube ich, dass mindestens 50 Prozent dieser Menschen emigrieren werden - weil sie die Situation auf moralischer Ebene nicht mehr weiter dulden können. 

Alexander Kiossev bei den Protesten in Sofia neben zwei Kindern (Foto: privat)
Alexander Kiossev (links) bei den Protesten in SofiaBild: privat

Was verbindet die Demonstranten?

Sie verbindet der Wunsch, in der Wahrheit zu leben. "Sie können nicht mehr ertragen, in der Lüge, in der Kriminalität, im Schatten zu leben", wie Vaclav Havel es formulierte (Anm. d. Red.: in Bezug auf die Zeit des Kommunismus im ehemaligen Ostblock). Das bringt natürlich weitere praktische, politische und ökonomische Probleme - denn jeder fragt: Was kommt danach? Was passiert, wenn die Regierung gestürzt wird? Aber das ist im Moment nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, dass sich diese moralische Solidarität gebildet hat.

Sehen Sie da Parallelen zu den Protesten in der Türkei?

Ja, es gibt Parallelen: Angehörige verschiedener Gesellschaftsschichten haben sich zusammengeschlossen und reagieren als ein echtes politisches Subjekt. Und das politische Subjekt sagt: So geht es nicht mehr weiter.

Wie wird Ihrer Meinung nach dieser Konflikt zwischen Regierung und Demonstranten weitergehen?

Das ist noch nicht absehbar, aber die Gewalt hat den Protest verändert und jetzt wird der Konflikt weiter eskalieren. Ich hoffe, dass die Regierung vernünftig sein wird und zurücktritt. Aber ihre Mitglieder haben viel zu verlieren: Sie wissen, dass die Machtkonstellation nach einem Rücktritt niemals wieder dieselbe sein wird.

Alexander Kiossev ist Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Sofia.

Das Gespräch führte Alexandra Scherle.