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"Kino, Aspirin und Aasgeier"

Carlos Albuquerque 27. Oktober 2005

Der Film des brasilianischen Regisseurs Marcelo Gomes, der sein erfolgreiches Debüt in Cannes hatte, erzählt von der Möglichkeit der Begegnung zweier fremder Kulturen.

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Kommen Sie zusammen?Bild: Presse
Film Urubus - Aasgeier, Bild 3
Der Aspirin-WerbezugBild: Presse

Johann fährt mit seinem Lkw von Ort zu Ort im trockenen Nordosten Brasiliens, um für das neue Wundermittel der Firma Bayer zu werben. Ranulpho, ein junger Mann aus dem armen Nordosten, hilft ihm bei den Vorführungen des Werbefilms für das Produkt auf den Plätzen der kleinen Städte. Ranulpho braucht das Geld, um eine Fahrkarte in den reicheren Süden zu kaufen, wo er sein Glück versuchen will. Der Film spielt im Jahre 1942. Der Eintritt Brasiliens in den Zweiten Weltkrieg ändert das Schicksal der beiden Protagonisten.

"O Cinema, a Aspirina e os Urubus" ("Kino, Aspirin und Aasgeier") ist der erste Spielfilm des 42-jährigen Regisseurs Marcelo Gomes. Er wurde bei den Filmfestspielen in Cannes 2005 unter allen Filmen für den Nationalen Erziehungspreis der französischen Regierung ausgewählt. Als Begründung nannte die Jury "die Fähigkeit des Filmes, unseren Blick auf die Welt zu verändern" und "die Ablehnung von Klischees". Der Preis verpflichtet die französische Regierung, den Film in den kommenden drei Jahren einer Million Schülern zu zeigen.

Bayer hat den Film nicht gesponsert, die Benutzung des Namens ihres bekanntesten Arzneimittels allerdings erlaubt. Im November 2005 startet der Film in Brasilien, ab Januar 2006 in Frankreich, den USA und acht weiteren Ländern.

Überrascht von Deutschland

Anhand einer wahren Geschichte, die ihm sein Großonkel Ranulpho erzählt hat, schrieb Marcelo Gomes selber die erste Fassung des Drehbuches für seinen Film. Bis dahin war der Brasilianer, der Anfang der 1990er-Jahre in England Filmregie studiert hat, nie in Deutschland gewesen.

Film Urubus - Aasgeier, Bild 4
Regisseur Marcelo GomesBild: Presse

Im Gespräch mit DW-WORLD verweist er auf die Tradition der deutschen Reisenden in Brasilien, deren Berichte er gelesen hat. Diese Erzählungen mit ihrem deutschen Blick auf Brasilien half Gomes, seinen Protagonisten Johann zu konstruieren. Vor Beginn der Dreharbeiten besuchte er jedoch Deutschland und war überrascht, etwas zu finden, was er nicht erwartet hatte: Freude und Nettigkeit.

Nach seiner Rückkehr nach Brasilien änderte Gomes seinen Johann-Entwurf. Johann wurde zu "einem sanften, fröhlichen Menschen, einem Hippie der 1940er-Jahre, der keine Lust hatte, jemanden zu töten. Er musste auch deswegen Deutschland verlassen", erklärt der Regisseur.

Gomes sagt, er wollte einen Film über die Alterität machen. Ranulpho, der brasilianische Protagonist, ist ein bedächtiger, verhärteter Mensch, geprägt durch sein Leben in der Dürre. Johann hingegen ist fröhlich und nett. Durch diese Inversion wollte ich die Stereotypen dekonstruieren. Beide Menschen stecken in der gleichen Situation – der eine flieht vor dem Krieg, der andere vor der Armut. Sie brauchen einander, um zu überleben. Durch seine Freundschaft zu Ranulpho entwickelt Johann seine Beziehung zu jenem verarmten Nordosten Brasiliens. Die Not zwingt Ranulpho, sich zu öffnen. "Er glaubt nicht mehr, dass Johann ein Alien ist, sondern ein Freund", sagt Gomes.

Möglichkeit und Differenz

Marcelo Gomes Erzählung ist praktisch eine poststrukturalistische Fabel: Das Aufbauen des "Ichs" kommt durch den "Anderen" zustande, und so wird die Alterität beibehalten. Sie zeigt uns, dass verschiedene Kulturen miteinander leben können, ohne dass sie eins werden müssen.

Gomes Film ist ein geglückter Fall von Autorenkino. Eine relativ kleine Produktion, die von der Kohärenz des Drehbuches und des Zusammenspiels von Szenenbild und Schauspielern lebt. Das kleine Führerhaus des Lkws, die Einöde und das Licht des wolkenlosen Sertão, wie das trockene Hinterland im Nordosten Brasiliens genannt wird, fokussieren die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf Geschichte und Schauspieler.

Für seinen Deutschen wollte Gomes einen deutschen Schauspieler haben, der Portugiesisch kann und das Sertão nicht kannte. Den 32-jährigen Bayern Peter Ketnath fand er in Berlin. Der Münchner hat schon für Joseph Vilsmaier in "And Nobody Weeps for Me" und im deutschen und französischen Fernsehen gearbeitet.

Der brasilianische Protagonist sollte tatsächlich aus dem Nordosten stammen. João Miguel, 35 Jahre alt, aus Bahia stammend, hat vor kurzem bei den Filmfestspielen in Rio de Janeiro für seine Leistung den Preis für den besten Schauspieler bekommen.

Onkel Ranulpho starb im September in São Paulo. Den Film über diese Episode seines Lebens hat er nie gesehen. Er hinterließ uns aber eine schöne Geschichte.